Lehrgedicht. Man kann bei jeder Dichtungsart dem Menschen nützliche Lehren geben und dem Verstand wichtige Wahrheiten einprägen; deswegen ist nicht jedes Gedicht, darin es geschieht, ein Lehrgedicht. Dieser Name wird einer besonderen Gattung gegeben, die sich von allen anderen Gattungen dadurch unterscheidet, dass ein ganzes System von Lehren und Wahrheiten, nicht beiläufig, sondern als die Hauptmaterie im Zusammenhang vorgetragen und mit Gründen unterstützt und ausgeführt wird.
Es scheint zwar, dass der Unterricht oder der Vortrag zusammenhängender Wahrheiten und die gründliche Bevestigung derselben, dem Geist der Dichtkunst entgegen sei, welcher hauptsächlich Lebhaftigkeit, Sinnlichkeit und die Abbildung des Einzelen erfordert, da die unterrichtende Rede auf Richtigkeit und Deutlichkeit sieht, auch abgezogene allgemeine Begriffe oder Sätze, vorzutragen hat. Besonders erfordert die Untersuchung des Wahren einen Gang, der sich von dem Schwung des Dichters sehr zu entfernen scheint. Dieses hat einige Kunstrichter verleitet, das Lehrgedicht von der Poesie auszuschließen. Freilich könnte sich die Dichtkunst mit dem Vortrag zusammenhängender Wahrheiten nicht bemengen, wenn sie notwendig so müssten vorgetragen und bewiesen werden, wie Euklides oder Wolf es getan haben. Es gibt aber gründliche Systeme von Wahrheiten, die auf eine sinnliche, dem anschauenden Erkenntnis einleuchtende Weise können gesagt werden; wovon wir an Horazens und Boileaus Werken über die Dichtkunst, an Popens Versuch über den Menschen, an Hallers Gedicht über den Ursprung des Übels und manchem anderen Werke dieser Gattung, vortrefliche Beispiele haben, denen man, ohne in verächtliche Spizfindigkeiten zu verfallen, den Namen sehr schöner Gedichte nicht versagen kann. Wir werden auch danach zeigen, dass dem Lehrgedicht nicht bloß überhaupt ein Platz unter den Werken der Dichtkunst einzuräumen sei, sondern dass es so gar unter die wichtigsten Werke derselben gehöre. Obgleich die Entdekung der Wahrheit oft das Werk eines kalten und gesetzten philosophischen Nachdenkens ist, so bleibt doch der nachdrückliche und eindringende Vortrag derselben allemal ein Werk des Geschmacks.1 Wahrheiten, welche durch die mühesamste Zergliederung der Begriffe sind entdeckt worden, können meistenteils auch dem bloß anschauenden Erkenntnis im Einzeln sinnlich vorgestellt und einleuchtend vorgetragen werden. Geschiehet dieses mit allen Reizungen des Vortrages, so entsteht daraus das eigentliche Lehrgedicht. Sein Charakter besteht demnach darin, dass es ein System von Wahrheiten, mit dem Reiz der Dichtkunst bekleidet, vortrage. Der sinnliche, mit Ge schmack verbundene Vortrag des Redners, von dem in dem vorhergehenden Artikel gesprochen worden, ist hier noch nicht hinreichend. Vielweniger kann man mit Batteux sagen, dass überhaupt, Wahrheit in Verse gebracht, ein Lehrgedicht ausmache. Der Dichter, der durchgehends noch sinnlicher ist als der Redner, mahlt den Gegenstand lebhafter; er nimmt überall, wo es möglich ist, die Begriffe und Vorstellungen von dem, was in der körperlichen Welt, am leichtesten und hellesten in die Sinne fällt, um dem Geiste dadurch die abgezogenen allgemeinen Vorstellungen desto lebhafter vorzubilden. Oft, wo der Redner den Gegenstand bloß nennt, weil schon der Name ihn in der Einbildungskraft des Zuhörers zeichnet, liebt der Dichter ihn auszubilden und mit Farben zu bekleiden. Der höhere Grad der Sinnlichkeit verursacht auch, dass der Dichter durchaus seinen Charakter behält. Er nimmt ihn nicht nur in einzelnen Stellen an; sondern auch da, wo er die abstraktesten Wahrheiten vorzutragen hat. Überall merkt man, dass er die Wahrheit nicht bloß erkennt, sondern stark fühlt; und da, wo sie an Empfindung grenzt, überlässt er sich bisweilen derselben und malet im Vorbeigang leidenschaftliche Szenen, die mit seinem Inhalt verwandt sind, in dem Ton des epischen Dichters. Man kann überhaupt sagen, dass das Lehrgedicht in seinem Ton viel Ähnlichkeit mit dem epischen Gedicht habe. Der lehrende Dichter ist von einem System von Wahrheiten, eben so gerührt und eingenommen, wie es der epische Dichter von einer großen Handlung ist. Daher kann auch das, was wir von dem Charakter des epischen Gedichts gesagt haben, auf das Lehrgedicht angewendet werden. Obgleich der lehrende Dichter von seinem Gegenstand durchdrungen ist; so wird er davon nicht so ganz hingerissen, wie der lyrische Dichter. Nur hier und da, fällt er ganz in das Leidenschaftliche und nimmt wohl gar den hohen lyrischen Ton an, von dem er aber bald wieder auf seinen Inhalt kommt. In dem ganzen Umfange der Dichtkunst ist kaum eine Art der Reizung, wodurch die vorgetragene Wahrheit einen lebhaften Eindruck macht, die der Dichter nicht in den verschiedenen Teilen des Gedichts anbringen könnte. Bald zeichnet er die Wahrheit in lebhaften Gemälden, bald kleidet er sie in rührende Erzählungen ein; bald in pathetische Ermahnungen: jetzt führt er uns auf unsere eigene Empfindungen, um uns von der Wahrheit zu überzeugen; denn lässt er sie uns in anderen Menschen fühlen. Auf so mannigfaltige Weise kann er die Wahrheit einleuchtend und wirksam machen.
Es scheint, dass das Lehrgedicht, wie gesagt, zu seinem Inhalt ein ganzes System von Wahrheiten erfodere; weil man auch einem langen Werk, das eine Menge einzelner, unter sich nicht zusammenhängender Lehren und Sittensprüche, wie die Sprüche Salomons oder die Lehren des Jesus Sirach, in zusammenhängenden Versen vortrüge, schwerlich den Namen des Lehrgedichts geben würde. So bald aber die vorgetragenen Wahrheiten als einzelne Teile eines ganzen Systems zusammenhängen, da kann sinnliche Anordnung, Verhältnis der Teile und jede andere Eigenschaft, wodurch eine Rede zum Werk des Geschmacks wird, im Ganzen statt haben. Daher hat das Lehrgedicht, wie die Epopöe, ihren Anfang, ihr Mittel und ihr Ende; weil ohne dieses kein System statt hat. Der Dichter übersieht den ganzen Umfang seiner Materie und ordnet aus den Teilen derselben ein Ganzes, das ohne Mühe zu übersehen ist und die Vorstellungskraft lebhaft rührt.
Vielleicht aber ist zum Charakter des Lehrgedichts nicht notwendig, dass es Wahrheiten, die bloß durch richtige Schlüsse erkannt werden, zum Inhalt habe. Sollten in diese Gattung nicht auch die Gedichte gehören, die uns ein wohl geordnetes Gemälde von einem System vorhandener Dinge, die aus Erfahrung und Beobachtung erkannt werden, darstellen, wie Thomsons Gedichte von den Jahrszeiten und Kleists Frühling? Wenigstens scheinen sie zunächst an das Lehrgedicht zu gränzen. Von dieser Art wäre ein Gedicht, das uns die Einrichtung und die vornehmsten Gesetze eines Staats in einem System vortrüge. Auch der lehrt, der uns von vorhandenen Dingen, deren Beschaffenheit und Zusammenhang unterrichtet. An diese Art des Lehrgedichtes würde sich auch das bloß historische Gedicht anschließen, das eine Reihe wahrer Begebenheiten enthielte. Also scheint Batteux nicht ganz unrecht zu haben, wenn er das bloß historische Gedicht auch in diese Gattung setzt. Wir haben Lehrgedichte und man erkennt sie einstimmig für solche, darin zusammenhängende Systeme speculativer Untersuchungen vorgetragen werden, wie das Gedicht des Lukretius von der Natur der Dinge, Hallers Gedicht vom Ursprung des Übels, Popens vom Menschen, Wielands von der Natur der Dinge und andere mehr: andere tragen Theorien von Künsten oder auch ganze Systeme praktischer Regeln vor, wonach gewisse Geschäfte sollen getrieben werden, wie des Hesiodus Gedicht, die Arbeiten und die Tage; Virgils Georgica, Horaz und Boileau, von der Poetik; du Frenoy und andere von der Malerkunst: endlich haben wir auch Gedichte, die wohl geordnete und ausführliche Gemälde natürlicher und sittlicher Dinge enthalten, wie Hallers Alpen, Thomsons Jahrszeiten und Kleists Frühling. Auch bloß sittliche Schilderungen des Menschen oder der allgemeinen moralischen Natur, sind ein Stoff zum Lehrgedicht. Nicht ohne Grund könnte man auch solche Gedichte, wie Bodmers über den Charakter der deutschen Dichter und seine Wohltäter der Stadt Zürich sind, hierher rechnen.
Dass diese Gattung wichtig sei, ist bereits erinnert worden; aber die Sache verdient eine nähere Betrachtung. In jeder Art der menschlichen Angelegenheiten, in jedem Stand, jeder gesellschaftlichen Verbindung, ist eine lebhafte und sich ans Herz anschließende Kenntnis, gewisser sich auf dieselbe beziehender Wahrheiten, allemal der Grund, wo nicht gar aller guten Handlungen, doch des durchaus guten und rechtschaffenen Betragens. Der Mensch, dessen Herz von der Natur auf das beste gebildet worden, kann nicht allemal gut handeln, wenn er bloß der Empfindung nachgibt. Erst durch ein gründliches System praktischer Wahrheiten, wird der Mensch von gutem Herzen, zu einem vollkommenen Menschen. Nur dieses stellt ihm jedes besondere Geschäft und jede Angelegenheit in dem wahren Gesichtspunkt vor, der ihm ein richtiges Urteil davon gibt und seine Entschließungen auf das rechte Ziel lenket. Es ist das Werk der Philosophie diese Wahrheiten zu entdecken; aber die Dichtkunst allein, kann ihnen auf die beste Weise die wirksame Kraft geben. Was der reine Verstand am deutlichsten begreift, wird am leichtesten wieder ausgelöscht, weil es an nichts sinnlichem hängt. Der Dichter ist nicht nur durchaus sinnlich, sondern sucht unter den sinnlichen Gegenständen die kräftigsten aus; an diese hänget er die Begriffe und Wahrheiten und dadurch werden sie nicht nur unvergeßlich, sondern auch einnehmend, weil sich die Empfindung einigermaßen damit vermischt.
–– Aus ihrem Bilderschatz Schmückt sie sie reizend aus und nimmt der Gründe Platz.2
Der lehrende Dichter sucht in dem Umfang der uns allezeit gegenwärtigen sinnlichen Gegenstände die lebhaftesten aus; braucht sie als Spiegel, darin unsere Begriffe mit voller Klarheit abgemalt sind und dadurch unsere Urteile festgesetzt werden. Daher geschiehet es, dass wir uns derselben bei gar mannigfaltigen Gelegenheiten wieder erinnern. Da er endlich nicht nur jedes einzelne mit allen Annehmlichkeiten des Wohlklanges, sondern auch sein ganzes System in einem schönen, aber sinnlich faßlichen Plan vorträgt und den Vortrag selbst durch alle Reizungen einnehmend macht; so muss jeder Mensch von Geschmack Lust bekommen, ihn nicht nur oft zu lesen, sondern auch alles lebhaft im Gedächtnis zu behalten.
Hieraus sieht man aber auch, dass alle Dichtergaben zusammen kommen müssen, um in dieser Gattung völlig glücklich zu sein. Die fließendste Harmonie des Verses, die schönsten Farben des Ausdrucks, die kräftigsten Bilder und im Ganzen die schlaueste Kunst der Anordnung, sind hier mehr als irgendwo notwendig, damit sich alles recht lebhaft einpräge. Lukretius hat nur in einzelnen Stellen seines Gedichts, allen diesen Foderungen genug getan; aber an dem meisten Orten ist er doch zu troken; da hingegen Virgil sich durchaus als einen großen Dichter gezeigt hat. Unter uns kann Haller zum Muster dienen und in einigen, was die Stärke des Ausdrucks und die Wahl der Bilder betrift, auch Witthof, dessen Vers aber nicht den erfoderlichen Wohlklang hat. Wieland hat sich in seiner ersten Jugend in dieses Feld begeben und es ist zu wünschen, dass er noch einmal dahin zurückekehre, wo es ihm leicht sein würde seinen besten Vorgängängern in allen Stücken gleich zu kommen, in einigen aber, sie zu übertreffen. Er wäre vollkommen im Stande die Anmerkung eines unserer Kunstrichter zu wiederlegen, dass unsere Lehrdichter nur denn vortreflich sein, wenn sie abstrakte Lehren der Weltweisheit vortragen, hingegen sehr fallen, wenn sie sich zu den Sitten der Länder und Menschen herablassen.3
Ein Dichter von Wielands Geist könnte sich einen unsterblichen Namen machen, wenn er Leibnizen würde, was Lukretius dem Epicur ist. Nie ist ein erhabeneres System der Philosophie erdacht worden als das Leibnizische, das auch zugleich wegen der Kühnheit vieler seiner Lehren, die das höchste enthalten, was der menschliche Verstand jemals wagen wird, recht für den hohen Flug der Dichtkunst gemacht zu sein scheint. Seine Begriffe von einzelnen Wesen und eines jeden besonderer Harmonie mit dem Ganzen, von den Monaden, von der Seele; seine allgemeine vorhergeordnete Harmonie, seine Stadt Gottes –. Was kann ein philosophischer Poet größers wünschen? Auch könnte man einen vortreflichen Stoff zum Lehrgedichte von den Grundwahrheiten und Grundmaximen einer weisen Staatsverwaltung hernehmen. Was für unvergleichliche Gelegenheiten zu den reizendsten Gemälden würde er nicht an die Hand geben? Zu wünschen wäre auch, dass ein dazu geschickter Dichter ein großes Lobgedicht auf die vornehmsten Wohltäter des menschlichen Geschlechts ausarbeitete. Er würde Gelegenheit haben, darin zu lehren, in was für einem Zustande die Menschen sein könnten, wenn einmal Vernunft und Sitten den höchsten Grad, dessen die menschliche Natur fähig ist, würden erreicht haben. Denn würde er allen großen Männern, die zum besten der Menschen, Künste, Gesetze, Wissenschaften erfunden haben, ihr verdientes Lob erteilen und dadurch andere Genie zur Nacheiferung reizen. Ein sehr herrlicher und reicher Stoff. Selbst einige besondere, für das menschliche Geschlecht höchst wichtige Wahrheiten, von der göttlichen Oberherrschaft über die Welt, von der Unsterblichkeit der Seele, von der Wichtigkeit der Religion, sind zwar von einigen neueren Dichtern behandelt wor den; aber noch gar nicht in dem Maße, dass man damit zufrieden sein könnte. Hier ist also für die Dichter noch ein überaus fruchtbares Feld, wie ganz neu zu bearbeiten. Um so vielmehr ist zu wünschen, dass die Kunstrichter nicht so schnell sein möchten, unseren jungen Dichtern, die in verschiedenen Kleinigkeiten, ein schönes dichterisches Genie gezeigt haben, durch gar zu ungemessenes Lob, die Einbildung einzuflößen als ob sie jetzt schon in das Verzeichnis der großen Dichter gehören, die durch ihre Gesänge sich um das menschliche Geschlecht verdient gemacht haben. Dies ist eben so viel als wenn man einen jungen Philosophen deswegen, dass er etwa eine metaphysische Erklärung richtiger als andere gegeben oder einige Sätze gründlicher als bis dahin geschehen ist, bewiesen hätte, neben Leibnitzen oder Wolfen stellen wollte. Wer historische Nachrichten und verschiedene kritische Bemerkungen über alle Lehrgedichte der Alten und der Neuern, zu haben wünschet, wird auf Hr. Duschens Briefe zur Bildung des Geschmacks verwiesen.
Die Alten hatten die Gewohnheit, dem auch die meisten Neueren gefolgt sind, ihre Lehrgedichte allemal jemanden zuzuschreiben und Servius hält dieses so gar für notwendig, quia præ ceptum et doctoris et discipuli personam requirit. Aber Virgil hat gewiss den Mecänas nicht für seinen Schüler angesehen.
Zu dem Lehrgedichte können auch die Satyren und die lehrenden Oden und Lieder gerechnet werden; davon aber wird in den besonderen Artikeln über ihre Gattung gesprochen.
_______________
1 Man sehe den vorhergehenden Artikel lehrende Rede.
2 Wielands Nat. der Dinge 2. B.
3 S. Briefe über die neueste Literatur im VIII Th S. 165.