29. Das Kriegswesen.
Kriegsgründe
Den Krieg verabscheuen die Utopier als etwas geradezu Bestialisches, womit sich gleichwohl keine Gattung wilder Tiere so häufig zu schaffen macht, wie der Mensch; und entgegen den Sitten fast aller andern Völker halten sie nichts für so unrühmlich, als den im kriege erstrebten Ruhm; nichts destoweniger jedoch üben sie sich sehr eifrig in soldatischer Zucht, und zwar nicht nur die Männer, sondern an bestimmten Tagen auch die Frauen, damit im Falle der Not auch sie zum Kriege nicht untüchtig sind.
Sie beginnen einen solchen aber nicht blindlings sondern entweder um ihre Grenze zu schützen, oder um die das Gebiet ihrer Freunde überschwemmenden Feinde zurückzuschlagen oder um irgend ein von Tyrannei bedrücktes Volk, dessen sie sich erbarmen, vom Joche eines Tyrannen und von der Sklaverei zu befreien, was sie aus purer Menschenliebe unternehmen.
Wiewohl sie den Freunden im Punkte der Hilfe zu Willen sind, geschieht dies nicht immer nur zu deren Verteidigung, sondern sie gewähren die Hilfe zuweilen auch, damit diese zugefügtes Unrecht vergelten oder vergelten können; dieses aber tun sie nur dann, wenn sie gleich von Anfang an um Rat gefragt werden, die Sache als eine gerechte gebilligt haben und die zurückverlangten Dinge nicht wieder zurückerstattet worden sind; dann eröffnen die Utopier selbst den Krieg, wozu sie sich nicht bloß dann entscheiden, wenn bei einem feindlichen Einfall Beute weggeführt worden ist, sondern noch viel energischer, wenn ihre Kaufleute bei irgend einem Volke entweder unter dem Vorwande unbilliger Gesetze oder durch üble Auslegung guter Gesetze, unter dem Deckmantel der Gerechtigkeit verläumderisch angeklagt werden.
Das und nichts Anderes war die Ursache des Krieges, den die Utopier kurz vor unserer Zeit für die Nephelogeten gegen die Alaopoliten geführt haben, nämlich ein den Kaufleuten der Nephelogeten bei den Alaopoliten unter dem Vorwand rechtens zweifellos zugefügtes Unrecht — so erschien es den Utopiern.
Aber ob nun mit Recht oder Unrecht, die Sache ist durch einen so grausamen Krieg gerächt worden, indem zu den Streitkräften der Gegner auf beiden weiten sich der Haß und die Hilfskräfte der benachbarten Völker gesellten, dass einige der blühendsten Nationen bis ins Mark erschüttert, andere schwer mitgenommen wurden, immer neue Leiden und Übel ans den alten entstanden, bis das Ende war, dass die Alaopoliten sich unterwarfen und in die Sklaverei der Nephelogeten gerieten (denn die Utopier führten den Krieg nicht im eigenen Interesse), deren Verhältnisse doch mit dem blühenden Zustande der Alaopoliten nicht zu vergleichen gewesen waren.
So energisch verfolgen die Utopier ein ihren Freunden, wenn auch nur in Geldangelegenheiten, angetanes Unrecht; nicht so streng verfahren sie im Falle eigenen erlittenen Unrechts; indem, wenn sie überlistet und infolge dessen an Gütern geschädigt werden, nur aber keine körperliche Gewalttat erleiden, sie sich nur bis zu dem Grade und nicht weiter erzürnen, dass sie jeden Verkehr mit diesem Volke so lange abbrechen, bis ihnen Genügtuug gegeben wird. Nicht, dass ihnen was Wohl ihrer eigenen Bürger weniger am Herzen läge, als das ihrer Bundesgenossen, aber die pekuniären Verluste dieser sind ihnen viel unliebsamer zu ertragen, weil diese persönlich schweren Schaden an ihrem Privatvermögen erleiden, wenn sie von Verlusten betroffen werden.
Ihre eigenen Bürger verlieren kein persönliches Eigentum, sondern nur staatliches Gemeingut, vielmehr nur das, was daheim zur Genüge vorhanden, sozusagen überflüssig ist, weil es im andern Falle gar nicht zur Ausfuhr gelangen wurde. Und so kommt es, dass eigentlich keiner so recht das Gefühl eines Schadens hat. Darum halten sie es auch für allzu grausam, dass ein derartiger Schaden durch den Tod vieler gerächt werden soll, ein Schaden, dessen Übelstand kein Einziger, weder am Leben, noch am Lebensunterhalt, zu fühlen bekommt.
Wenn übrigens einer ihrer Staatsangehörigen irgendwo im Ausland am Leibe geschädigt oder getötet wird, sei's nun durch öffentlichen Beschluss oder infolge eines Privatvorsatzes, so lassen sie den Sachverhalt durch eigene Abgesandte genau untersuchen und sich nicht besänftigen, wofern ihnen die Schuldigen nicht aus geliefert werden, sondern erklären dann ohne weiters den Krieg. Die Ausgelieferten, die die Missetat verübt haben, werden entweder mit dem Tode oder mit Sklaverei bestraft.