2. Das Verhältnis des Ideals zur Natur

 

Nun gibt es allerdings höhere, idealere Stoffe für die Kunst als die Darstellung solcher Froheit und bürgerlichen Tüchtigkeit in an sich immer unbedeutenden Partikularitäten. Denn der Mensch hat ernstere Interessen und Zwecke, welche aus der Entfaltung und Vertiefung des Geistes in sich herkommen und in denen er in Harmonie mit sich bleiben muß. Die höhere Kunst wird diejenige sein, welche sich die Darstellung dieses höheren Inhalts zur Aufgabe macht. Erst in dieser Rücksicht nun ergeht die Frage, woher denn die Formen für dies aus dem Geist Erzeugte zu entnehmen seien. Die einen hegen die Meinung, wie der Künstler zunächst in sich selber jene hohen Ideen trage, die er sich erschaffen, so müsse er sich auch die hohen Formen dafür, wie die Gestalten z. B. der griechischen Götter, Christus, der   Apostel, Heiligen usf., aus sich selber bilden. Gegen diese Behauptung zieht nun vor allem Herr von Rumohr zu Felde, indem er den Abweg der Kunst in dieser Richtung, in welcher die Künstler sich eigenmächtig ihre Formen im Unterschiede der Natur erfanden, erkannt und dagegen die Meisterwerke der Italiener und Niederländer als Muster aufgestellt hat. In dieser Beziehung tadelt er es (Italienische Forschungen16), Bd. l, S. 105 f.), „daß die Kunstlehre der letzten sechzig Jahre darzulegen bemüht gewesen, der Zweck oder doch der Hauptzweck der Kunst bestehe darin, die Schöpfung in ihren einzelnen Gestaltungen nachzubessern, beziehungslose Formen hervorzubringen, welche das Erschaffene ins Schönere nachäffen und das sterbliche Geschlecht gleichsam dafür schadlos halten sollten, daß die Natur eben nicht schöner zu gestalten verstanden«. Deshalb rät er (S. 63) dem Künstler, »von dem titanischen Vorhaben abzustehen, die Naturform zu verherrlichen, zu verklären oder mit welchem anderen Namen solche Überhebungen des menschlichen Geistes in den Kunstschriften bezeichnet werden«. - Denn er ist der Überzeugung, daß auch für die höchsten geistigen Gegenstände in dem Vorhandenen bereits die genügenden Außenformen vorlägen, und behauptet deshalb (S. 83), »daß die Darstellung der Kunst auch da, wo ihr Gegenstand der denkbar geistigste ist, nimmer auf willkürlich festgesetzten Zeichen, sondern durchhin auf einer in der Natur gegebenen Bedeutsamkeit der organischen Formen beruht«. Dabei hat Herr von Rumohr hauptsächlich die von Winckelmann angegebenen idealischen Formen der Alten im Auge. Diese Formen herausgehoben und zusammengestellt zu haben, ist aber Winckelmanns unendliches Verdienst, obschon sich in bezug auf besondere Merkmale Irrtümer mögen eingeschlichen haben. Wie z. B. (S. 115, Anm.) Herr von Rumohr zu glauben scheint, daß die Verlängerung des Unterleibes, welche Winckelmann (Geschichte der Kunst des Altertums [1764], 5. Buch, Kap. 4, § 2) als ein Merkmal antiker Formenideale bezeichnet, aus römischen Standbildern entnommen sei. Hiergegen nun fordert Herr von Rumohr in seiner Polemik gegen das Ideale, der Künstler solle sich ganz dem Studium der Naturform in die Arme werfen; hier erst komme das eigentlich Schöne wahrhaft zum Vorschein. Denn, sagt er (S. 144), »die wichtigste Schönheit beruht auf jener gegebenen, in der Natur, nicht in menschlicher Willkür gegründeten Symbolik der Formen, durch welche diese in bestimmten Verbindungen zu Merkmalen und Zeichen gedeihen, bei deren Anblick wir uns notwendig teils bestimmter Vorstellungen und Begriffe erinnern, teils auch bestimmter in uns schlummernder Gefühle bewußt werden«. Und so verbinde denn auch (S. 105, Anm.) »ein geheimer Zug des Geistes, etwa was man Idee nennt, den Künstler mit verwandten Naturerscheinungen, und in diesen lerne er ganz allgemach sein eigenes Wollen immer deutlicher erkennen und werde durch sie dasselbe auszudrücken erfähigt«.

Allerdings kann in der idealen Kunst von willkürlich festgesetzten Zeichen nicht die Rede sein, und wenn es geschehen ist, daß jene idealen Formen der Alten mit Hintansetzung der echten Naturform zu falschen und leeren Abstraktionen sind nachgebildet worden, so tut Herr von Rumohr recht daran, aufs stärkste dagegen zu opponieren.

Als das Hauptsächliche aber bei diesem Gegensatze des Kunstideals und der Natur ist folgendes festzustellen.

Die vorhandenen Naturformen des geistigen Gehaltes sind in der Tat als symbolisch in dem allgemeinen Sinne zu nehmen, daß sie nicht unmittelbar für sich selber gelten, sondern ein Erscheinen sind des Inneren und Geistigen, welches sie ausdrücken. Das macht schon in ihrer Wirklichkeit außerhalb der Kunst ihre Idealität im Unterschiede der Natur als solcher aus, die nichts Geistiges darstellt. In der Kunst nun soll auf ihrer höheren Stufe der innere Gehalt des Geistes seine Außengestalt erhalten. Dieser Gehalt ist  im wirklichen menschlichen Geist, und so hat er, wie das menschliche Innere überhaupt, seine vorhandene Außengestalt, in welcher er sich ausspricht. Wie sehr nun auch dieser Punkt zuzugeben ist, so bleibt es doch wissenschaftlich eine durchaus müßige Frage, ob es in der vorhandenen Wirklichkeit so schöne ausdrucksvolle Gestalten und Physiognomien gibt, deren sich die Kunst bei Darstellung z. B. eines Jupiter - seiner Hoheit, Ruhe, Macht -, einer Juno, Venus, eines Petrus, Christus, Johannes, einer Maria usf. unmittelbar als Porträt bedienen könne. Es läßt sich zwar dafür und dawider streiten, aber es bleibt eine ganz empirische und selbst als empirisch unentscheidbare Frage. Denn der einzige Weg der Entscheidung wäre das wirkliche Zeigen, das sich z. B. für die griechischen Götter schwer möchte bewerkstelligen lassen, und auch für die Gegenwart hat der eine etwa vollendete Schönheiten gesehen, der andere, tausendmal Gescheitere nicht. Außerdem aber gibt die Schönheit der Form überhaupt noch immer nicht das, was wir Ideal nannten, da zum Ideal auch zugleich Individualität des Gehalts und dadurch auch der Form gehört. Ein der Form nach durchaus regelmäßiges, schönes Gesicht z. B. kann dennoch kalt und ausdruckslos sein. Die Ideale der griechischen Götter aber sind Individuen, denen auch eine charakteristische Bestimmtheit innerhalb der Allgemeinheit nicht abgeht. Die Lebendigkeit des Ideals nun beruht gerade darin, daß diese bestimmte geistige Grundbedeutung, welche zur Darstellung kommen soll, durch alle besonderen Seiten der äußeren Erscheinung - Haltung, Stellung, Bewegung, Gesichtszüge, Form und Gestalt der Glieder usf. - vollständig durchgearbeitet sei, so daß nichts Leeres und Unbedeutendes übrigbleibe, sondern alles sich als von jener Bedeutung durchdrungen erweise. Was uns z. B. von griechischer Skulptur als in der Tat dem Phidias zugehörig in neuester Zeit vor Augen gestellt ist, erhebt vornehmlich durch diese Art durchgreifender Lebendigkeit. Das Ideal ist noch in seiner Strenge festgehalten und hat den Übergang zu Anmut, Lieblichkeit, Fülle und Grazie nicht gemacht, sondern hält jede Form noch in fester Beziehung auf die allgemeine Bedeutung, welche verleiblicht werden sollte. Diese höchste Lebendigkeit zeichnet die großen Künstler aus.

 Solch eine Grundbedeutung ist der Partikularität der wirklichen Erscheinungswelt gegenüber in sich abstrakt zu nennen, und zwar vorzugsweise in der Skulptur und Malerei, welche nur ein Moment herausheben, ohne zu der vielseitigen Entwicklung fortzugehen, in welcher Homer z. B. den Charakter des Achill als ebenso hart und grausam als mild und freundlich und nach so vielen anderen Seelenzügen zu schildern vermochte. In der vorhandenen Wirklichkeit nun kann solche Bedeutung auch wohl ihren Ausdruck finden, wie es z. B. fast kein Gesicht geben wird, das nicht den Anblick der Frömmigkeit, Andacht, Heiterkeit usw. liefern könnte; aber solche Physiognomien drücken noch tausenderlei daneben aus, was zu der auszuprägenden Grundbedeutung entweder gar nicht paßt oder zu ihr in keiner näheren Beziehung steht. Deshalb wird sich auch ein Porträt sogleich durch seine Partikularität als Porträt bekunden. Auf altdeutschen und niederländischen Gemälden z. B. findet sich häufig der Donator mit seiner Familie, Frau, Söhnen und Töchtern, abgebildet. Sie alle sollen in Andacht versenkt erscheinen, und die Frömmigkeit leuchtet wirklich aus allen Zügen hervor; aber außerdem erkennen wir in den Männern etwa wackere Kriegsleute, kräftig bewegte Menschen, in Leben und Leidenschaft des Wirkens viel versucht, und in den Frauen sehen wir Ehefrauen von ähnlicher lebenskräftiger Tüchtigkeit. Vergleichen wir hiermit selbst in diesen Gemälden, welche in Rücksicht auf ihre naturwahren Physiognomien berühmt sind, Maria oder danebenstehende Heilige und Apostel, so ist auf ihren Gesichtern dagegen nur ein Ausdruck zu lesen, und alle Formen, der Knochenbau, die Muskeln, die ruhenden und bewegten Züge, sind auf diesen einen Ausdruck konzentriert. Das Anpassende erst der ganzen Formation gibt den Unterschied des eigentlich Idealen und des Porträts. Nun könnte man sich vorstellen, der Künstler solle sich aus dem Vorhandenen die besten Formen hier und dort auserlesen und sie zusammenstellen oder auch, wie es geschieht, aus Kupferstich- und Holzschnittsammlungen sich Physiognomien, Stellungen usf. heraussuchen, um für seinen Inhalt die echten Formen zu finden. Mit diesem Sammeln und Wählen aber ist die Sache nicht abgetan, sondern der Künstler muß sich schaffend verhalten und in seiner eigenen Phantasie mit Kenntnis der entsprechenden Formen wie mit tiefem Sinn und gründlicher Empfindung die Bedeutung, die ihn beseelt, durch und durch und aus einem Guß heraus bilden und gestalten.

 


 © textlog.de 2004 • 25.11.2024 19:11:10 •
Seite zuletzt aktualisiert: 14.09.2004 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright