b. Die handelnden Individuen

 

Wir sehen in diesem Verhältnis nichts als einen trockenen äußerlichen Befehl von Athenes, ein ebenso inhaltsloses bloßes Gehorchen von Thoas' Seite. Bei Goethe dagegen wird Iphigenie zur Göttin und vertraut der Wahrheit in ihr selbst, in des Menschen Brust. In diesem Sinne tritt sie zu Thoas und sagt:

 

Hat denn zur unerhörten Tat der Mann

Allein das Recht? drückt denn Unmögliches

Nur er an die gewaltge Heldenbrust?

 

Was bei Euripides der Befehl Athenes zuwege bringt, die Umkehrung des Thoas, sucht Goethes Iphigenie durch tiefe Empfindungen und Vorstellungen, welche sie ihm entgegenhält, zu bewirken und bewirkt sie in der Tat.

 

           Auf und ab

Steigt in der Brust ein kühnes Unternehmen:

Ich werde großem Vorwurf nicht entgehn,

Noch schwerem Übel, wenn es mir mißlingt;

Allein euch leg ich's auf die Knie! Wenn

Ihr wahrhaft seid, wie ihr gepriesen werdet,

So zeigt's durch euren Beistand und verherrlicht

Durch mich die Wahrheit! -

 

Und wenn ihr Thoas erwidert:

 

Du glaubst, es höre

Der rohe Skythe, der Barbar, die Stimme

Der Wahrheit und der Menschlichkeit, die Atreus,

Der Grieche, nicht vernahm?,

so antwortet sie in zartestem, reinstem Glauben:

Es hört sie jeder,

Geboren unter jedem Himmel, dem

Des Lebens Quelle durch den Busen rein

Und ungehindert fließt. -

 

Nun ruft sie seine Großmut und Milde im Vertrauen auf die Höhe seiner Würde an, sie rührt und besiegt ihn und drängt ihm in menschlich-schöner Weise die Erlaubnis ab, zu den Ihrigen zurückzukehren. Denn nur dies ist nötig. Des Bildes der Göttin bedarf sie nicht und kann sich ohne List und Betrug entfernen, indem Goethe mit unendlicher Schönheit den zweideutigen Götterspruch:

 

„Bringst du die Schwester, die an Tauris' Ufer

Im Heiligtume wider Willen bleibt,

Nach Griechenland, so löset sich der Fluch« -

 

in menschlicher, versöhnender Weise dahin auslegt, daß die reine heilige Iphigenie die Schwester, das Götterbild und die Schützerin des Hauses sei.

 

Schön und herrlich zeigt sich mir

Der Göttin Rat,

sagt Orest zu Thoas und Iphigenie;

Gleich einem heiigen Bilde,

Daran der Stadt unwandelbar Geschick

Durch ein geheimes Götterwort gebannt ist,

Nahm sie dich weg, dich Schützerin des Hauses;

Bewahrte dich in einer heiigen Stille

Zum Segen deines Bruders und der Deinen.

Da alle Rettung auf der weiten Erde

Verloren schien, gibst du uns alles wieder.

 

In dieser heilenden, versöhnenden Weise hat Iphigenie sich durch die Reinheit und sittliche Schönheit ihres innigen Gemüts schon früher in betreff auf Orestes bewährt. Ihr Erkennen versetzt ihn zwar, der keinen Glauben an Frieden mehr in seinem zerrissenen Gemüte hegt, in Raserei, aber die reine Liebe der Schwester heilt ihn ebensosehr von aller Qual der inneren Furien:

 

In deinen Armen faßte

Das Übel mich mit allen seinen Klauen

Zum letztenmal und schüttelte das Mark

Entsetzlich mir zusammen; dann entfloh's

Wie eine Schlange zu der Höhle. Neu

Genieß ich nun durch dich das weite Licht

Des Tages.

 

In dieser wie in jeder anderen Rücksicht ist die tiefe Schönheit des Gedichts nicht genug zu bewundern.

 


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