b. Die handelnden Individuen

 

ββ) Das Pathos darf deshalb weder im Komischen noch im Tragischen eine bloße Torheit und subjektive Marotte sein. Timon z. B. bei Shakespeare ist ein ganz äußerlicher Menschenfeind, die Freunde haben ihn beschmaust, sein Vermögen verschwendet, und als er nun selber Geld braucht, verlassen sie ihn. Da wird er ein leidenschaftlicher Feind der Menschen. Das ist begreiflich und natürlich, aber kein in sich berechtigtes Pathos. Noch mehr ist in Schillers Jugendarbeit Der Menschenfeind der ähnliche Haß eine moderne Grille. Denn hier ist der Menschenfeind außerdem ein reflektierender, einsichtsvoller und höchst edler Mann, großmütig gegen seine Bauern, welche er aus der Leibeigenschaft entlassen hat, und voll Liebe für seine ebenso schöne als liebenswürdige Tochter. In der ähnlichen Art quält sich Quinctius Heymeran von Flaming in dem Roman von August Lafontaine20) mit der Marotte von Menschenrassen usf. herum. Hauptsächlich aber hat sich die neueste Poesie zu einer unendlichen Phantasterei und Lügenhaftigkeit hinaufgeschraubt, welche durch ihre Bizarrerie Effekt machen soll, doch in keiner gesunden Brust widerhallt, da in solchen Raffinements der Reflexion über dasjenige, was das Wahre im Menschen sei, jeder echte Gehalt verflüchtigt ist.

Umgekehrt ist nun aber alles, was auf Lehre, Überzeugung und Einsicht in die Wahrheit derselben beruht, insofern diese Erkenntnis ein Hauptbedürfnis ausmacht, kein echtes Pathos für die Kunstdarstellung. Von dieser Art sind wissenschaftliche Erkenntnisse und Wahrheiten. Denn zur Wissenschaft gehört eine eigentümliche Art der Bildung, ein vielfaches Bemühen und mannigfache Kenntnis der bestimmten Wissenschaft und ihres Wertes; das Interesse aber für diese Weise des Studiums ist keine allgemeine bewegende Macht der menschlichen Brust, sondern beschränkt sich immer nur auf eine gewisse Anzahl von Individuen. Von gleicher Schwierigkeit ist die Behandlung rein religiöser Lehren, wenn sie nämlich ihrem innersten Gehalt nach sollen entfaltet werden. Der allgemeine Inhalt der Religion, der Glaube an Gott usf. ist zwar ein Interesse jedes tieferen Gemüts; bei diesem Glauben jedoch kommt es von selten der Kunst her nicht auf die Explikation der religiösen Dogmen und auf die spezielle Einsicht in ihre Wahrheit an, und die Kunst muß sich deshalb in acht nehmen, auf solche Explikationen einzugehen. Dagegen trauen wir der Menschenbrust jedes Pathos, alle Motive sittlicher Mächte zu, welche für das Handeln von Interesse sind. Die Religion betrifft mehr die Gesinnung, den Himmel des Herzens, den allgemeinen Trost und die Erhebung des Individuums in sich selbst als das eigentliche Handeln als solches. Denn das Göttliche der Religion als Handeln ist das Sittliche und die besonderen Mächte des Sittlichen. Diese Mächte aber betreffen, dem reinen Himmel der Religion gegenüber, das Weltliche und eigentlich Menschliche. Bei den Alten war dies Weltliche in seiner Wesentlichkeit der Inhalt der Götter, welche daher auch in bezug auf das Handeln vollständig mit in die Darstellung des Handelns eintreten konnten.

Fragen wir deshalb nach dem Umfang des hierher gehörigen Pathos, so ist die Zahl solcher substantiellen Momente des Willens gering, ihr Umfang klein. Besonders die Oper will und muß sich an einen beschränkten Kreis derselben halten, und wir hören die Klagen und Freuden, das Unglück und Glück der Liebe, Ruhm, Ehre, Heroismus, Freundschaft, Mutterliebe, Liebe der Kinder, der Gatten usf. immer wieder und wieder.

γγ) Solch ein Pathos nun erfordert wesentlich eine Darstellung und Ausmalung. Und zwar muß es eine in sich selber reiche Seele sein, welche in ihr Pathos den Reichtum ihres Inneren einlegt und nicht nur konzentriert und intensiv bleibt, sondern sich extensiv äußert und sich zur ausgebildeten Gestalt erhebt. Diese innere Konzentration oder Entfaltung macht einen großen Unterschied aus, und die besonderen Volksindividualitäten sind auch in dieser Rücksicht wesentlich verschieden. Völker von gebildeter Reflexion sind beredter im Ausdruck ihrer Leidenschaft. Die Alten z. B. waren es gewohnt, das Pathos, welches die Individuen beseelt, in seiner Tiefe auseinanderzulegen, ohne dadurch in kalte Reflexionen oder Geschwätz hineinzugeraten. Auch die Franzosen sind in dieser Rücksicht pathetisch, und ihre Beredsamkeit der Leidenschaft ist nicht etwa nur immer ein bloßer Wortkram, wie wir Deutsche oft in der Zusammengezogenheit unseres Gemüts meinen, insofern uns das vielseitige Aussprechen der Empfindung als ein Unrecht erscheint, das derselben angetan werde. Es gab in diesem Sinne in Deutschland eine Zeit der Poesie, in welcher besonders die jungen Gemüter, des französischen rhetorischen Wassers überdrüssig, nach Natürlichkeit Verlangen trugen und nun zu einer Kraft kamen, welche sich hauptsächlich nur in Interjektionen aussprach. Mit dem bloßen Ach und Oh jedoch oder mit dem Fluch des Zorns, mit dem Drauflosstürmen und Dreinschlagen ist die Sache nicht abzutun. Die Kraft bloßer Interjektionen ist eine schlechte Kraft und die Äußerungsweise einer noch rohen Seele. Der individuelle Geist, in welchem das Pathos sich darstellt, muß ein in sich erfüllter Geist sein, der sich auszubreiten und auszusprechen imstande ist.

Auch Goethe und Schiller bilden in dieser Beziehung einen auffallenden Gegensatz. Goethe ist weniger pathetisch als Schiller und hat mehr eine intensive Weise der Darstellung; besonders in der Lyrik bleibt er in sich gehaltener; seine Lieder, wie es dem Liede geziemt, lassen merken, was sie wollen, ohne sich ganz zu explizieren. Schiller dagegen liebt sein Pathos weitläufig, mit großer Klarheit und Schwung des Ausdrucks auseinanderzufalten. In der ähnlichen Weise hat Claudius im Wandsbecker Boten (Bd. l, S. 153) Voltaire und Shakespeare so gegenübergestellt, daß der eine sei, was der andere scheine: »Meister Arouet sagt: ich weine; und Shakespeare weint.« Aber ums Sagen und Scheinen gerade - und nicht um das natürliche wirkliche Sein - ist es in der Kunst zu tun. Wenn Shakespeare nur weinte, während Voltaire zu weinen schiene, so wäre Shakespeare ein schlechter Poet.

Das Pathos also muß, um in sich selber, wie die ideale Kunst es fordert, konkret zu sein, als das Pathos eines reichen und totalen Geistes zur Darstellung kommen. Dies führt uns zu der dritten Seite der Handlung, zur näheren Betrachtung des Charakters hinüber.

 


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