3. Die Äußerlichkeit des idealen Kunstwerks im Verhältnis zum Publikum
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γ) Hierdurch nun sind wir der echten Weise der Objektivität und Aneignung von Stoffen aus vergangenen Zeiten schon nähergerückt.
αα) Das erste, was wir hier anführen können, betrifft die echten Nationalgedichte, welche seit jeher bei allen Völkern von der Art gewesen sind, daß die äußere, geschichtliche Seite durch sich selber schon der Nation angehörte und ihr nichts Fremdes blieb. So ist es mit den indischen Epopöen, den Homerischen Gedichten und der dramatischen Poesie der Griechen. Sophokles hat den Philoktet, die Antigone, den Ajax, Orest, Ödipus und seine Chorführer und Chöre nicht so reden lassen, als sie zu ihrer Zeit würden gesprochen haben. In der gleichen Weise haben die Spanier ihre Romanzen vom Cid; Tasso in seinem Befreiten Jerusalem besang die allgemeine Angelegenheit der katholischen Christenheit; Camöes, der portugiesische Dichter, schildert die Entdeckung des Seewegs nach Ostindien um das Vorgebirge der Guten Hoffnung, die in sich unendlich wichtigen Taten der Seehelden, und diese Taten waren die Taten seiner Nation; Shakespeare dramatisierte die tragische Geschichte seines Landes, und Voltaire selbst machte seine Henriade. Auch wir Deutsche sind doch endlich davon abgekommen, entfernte Geschichten, die für uns kein nationales Interesse mehr haben, zu nationalen epischen Gedichten verarbeiten zu wollen. Bodmers Noachide*) und Klopstocks Messias sind aus der Mode, wie denn auch die Meinung nicht mehr gilt, es gehöre zur Ehre einer Nation, auch ihren Homer und außerdem ihren Pindar, Sophokles und Anakreon zu haben. Jene biblischen Geschichten liegen zwar unserer Vorstellung durch die Vertrautheit mit dem Alten und Neuen Testamente näher, aber das Geschichtliche der äußeren Gebräuche bleibt uns doch immer nur eine fremde Sache der Gelehrsamkeit, und eigentlich liegt als das Bekannte nur der prosaische Faden der Begebenheiten und Charaktere vor uns, welche durch die Bearbeitung mehr nur in neue Phrasen gestoßen werden, so daß wir in dieser Beziehung nichts als das Gefühl eines bloß Gemachten erhalten.
ββ) Nun kann sich aber die Kunst nicht allein auf einheimische Stoffe beschränken und hat sich in der Tat, je mehr die besonderen Völker miteinander in Berührung traten, ihre Gegenstände immer weiter aus allen Nationen und Jahrhunderten hergenommen. Geschieht dies, so ist es nicht etwa als eine große Genialität anzusehen, daß sich der Dichter ganz in fremde Zeiten hineinlebt, sondern die geschichtliche Außenseite muß so in der Darstellung auf der Seite gehalten werden, daß sie zur unbedeutenden Nebensache für das Menschliche, Allgemeine wird. In solcher Weise z. B. hat schon das Mittelalter zwar Stoffe des Altertums entlehnt, doch den Gehalt seiner eigenen Zeit hineingelegt und nun freilich wieder in extremer Weise nichts als den bloßen Namen Alexanders oder des Äneas und Kaisers Oktavianus übriggelassen.
Das allererste ist und bleibt die unmittelbare Verständlichkeit, und wirklich haben auch alle Nationen sich in dem geltend gemacht, was ihnen als Kunstwerk zusagen sollte, denn sie wollten einheimisch, lebendig und gegenwärtig darin sein. In dieser selbständigen Nationalität hat Calderon seine Zenobia und Semiramis bearbeitet und Shakespeare den verschiedenartigsten Stoffen einen englischen nationalen Charakter einzuprägen verstanden, obschon er den wesentlichen Grundzügen nach bei weitem tiefer als die Spanier auch den geschichtlichen Charakter fremder Nationen, wie z. B. der Römer, zu bewahren wußte. Selbst die griechischen Tragiker haben das Gegenwärtige ihrer Zeit und der Stadt, der sie angehörten, im Auge gehabt. Der Ödipus auf Kolonos z. B. hat nicht nur in Rücksicht auf das Lokal einen näheren Bezug auf Athen, sondern auch dadurch, daß Ödipus in diesem Lokal sterbend ein Hort für Athen werden sollte. In anderen Beziehungen haben auch die Eumeniden des Aischylos durch die Entscheidung des Areopags ein näheres heimisches Interesse für die Athenienser. Dagegen hat die griechische Mythologie, wie mannigfaltig sie auch und immer von neuem wieder seit dem Wiederaufleben der Künste und Wissenschaften ist benutzt worden, nie bei den modernen Völkern vollkommen einheimisch werden wollen und ist mehr oder weniger selbst in den bildenden Künsten und mehr noch in der Poesie - ihrer weiten Ausbreitung unerachtet - kalt geblieben. Es wird z. B. keinem Menschen jetzt einfallen, ein Gedicht an Venus, Jupiter oder Pallas zu machen. Die Skulptur zwar kann immer noch nicht ohne die griechischen Götter auskommen, aber ihre Darstellungen sind deshalb auch größtenteils nur Kennern, Gelehrten und dem engeren Kreise der Gebildetesten zugänglich und verständlich. In dem ähnlichen Sinne hat Goethe sich viel Mühe gegeben, die Philostratischen Gemälde den Malern zu näherer Beherzigung und Nachbildung vorstellig zu machen, doch hat er wenig damit ausgerichtet; dergleichen antike Gegenstände in ihrer antiken Gegenwart und Wirklichkeit bleiben dem modernen Publikum wie den Malern immer etwas Fremdes. Dagegen ist es Goethe selber in einem weit tieferen Geiste gelungen, durch seinen West-östlichen Divan noch in den späteren Jahren seines freien Innern den Orient in unsere heutige Poesie hineinzuziehen und ihn der heutigen Anschauung anzueignen. Bei dieser Aneignung hat er sehr wohl gewußt, daß er ein westlicher Mensch und ein Deutscher sei, und so hat er wohl den morgenländischen Grundton in Rücksicht auf den östlichen Charakter der Situationen und Verhältnisse durchweg angeschlagen, ebensosehr aber unserem heutigen Bewußtsein und seiner eigenen Individualität das vollständigste Recht widerfahren lassen. In dieser Weise ist es dem Künstler allerdings erlaubt, seine Stoffe aus fernen Himmelsstrichen, vergangenen Zeiten und fremden Völkern zu entlehnen und auch im ganzen und großen der Mythologie, den Sitten und Institutionen ihre historische Gestalt zu bewahren; zugleich aber muß er diese Gestalten nur als Rahmen seiner Gemälde benutzen, das Innere dagegen dem wesentlichen tieferen Bewußtsein seiner Gegenwart in einer Art anpassen, als deren bewunderungswürdigstes Beispiel bis jetzt noch immer Goethes Iphigenie dasteht.
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*) Johann Jakob Bodmer, Noa ein Heldengedicht, 1750
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