3. Die Äußerlichkeit des idealen Kunstwerks im Verhältnis zum Publikum

 

In betreff auf solche Umwandlung erhalten wieder die einzelnen Künste eine ganz verschiedene Stellung. Die Lyrik bedarf z. B. in Liebesgedichten am wenigsten der äußerlichen, historisch genau geschilderten Umgebung, indem ihr die Empfindung, die Bewegung des Gemüts für sich die Hauptsache ist. Von der Laura selbst z. B. erhalten wir durch Petrarcas Sonette in dieser Beziehung nur eine sehr geringe Kunde, fast nur den Namen, der ebensosehr auch könnte ein anderer sein; von dem Lokal usf. ist nur das Allgemeinste, der Quell von Vaucluse und dergleichen, angegeben. Das Epische dagegen fordert die meiste Ausführlichkeit, welche wir uns denn auch in Ansehung jener historischen Äußerlichkeiten, wenn sie nur klar und verständlich ist, am leichtesten gefallen lassen. Die gefährlichste Klippe aber sind diese Außenseiten für die dramatische Kunst, besonders bei Theateraufführungen, wo alles unmittelbar zu uns gesprochen wird oder lebendig an unsere sinnliche Anschauung kommt, so daß wir ebenso unmittelbar uns darin bekannt und vertraut finden wollen. Hier muß die Darstellung der historischen äußeren Wirklichkeit deshalb am meisten untergeordnet und ein bloßer Rahmen bleiben; es muß gleichsam nur dasselbe Verhältnis beibehalten werden, das wir in Liebesgedichten finden, in welchen der Geliebten, obschon wir mit den ausgesprochenen Empfindungen und der Art ihres Ausdrucks vollständig sympathisieren können, ein unserer eigenen Geliebten fremder Name gegeben ist. Es heißt da gar nichts, wenn die Gelehrten die Richtigkeit der Sitten, der Bildungsstufe, der Gefühle vermissen. In Shakespeares historischen Stücken z. B. ist für uns vieles, was uns fremd bleibt und wenig interessieren kann. Beim Lesen sind wir zwar damit zufrieden, im Theater nicht. Die Kritiker und Kenner meinen allerdings, dergleichen historische Kostbarkeiten sollten ihretwegen mit zur Darstellung kommen, und schimpfen dann über den schlechten, verdorbenen Geschmack des Publikums, wenn es bei solchen Dingen seine Langeweile zu erkennen gibt; das Kunstwerk aber und sein unmittelbarer Genuß ist nicht für die Kenner und Gelehrten, sondern für das Publikum, und die Kritiker brauchen nicht so vornehm zu tun, denn auch sie gehören zu demselben Publikum, und ihnen selber kann die Genauigkeit in historischen Einzelheiten kein ernstes Interesse sein. In diesem Sinne geben jetzt z. B. die Engländer aus Shakespeareschen Stücken nur die Szenen, welche an und für sich vortrefflich und aus sich selber verständlich sind, indem sie nicht den Pedantismus unserer Ästhetiker haben, daß dem Volke alle die fremdgewordenen Äußerlichkeiten, an denen es keinen Anteil mehr nehmen kann, vor Augen gebracht werden sollen. Werden daher fremde dramatische Werke in Szene gesetzt, so hat jedes Volk ein Recht, Umarbeitungen zu verlangen. Auch das Vortrefflichste bedarf in dieser Rücksicht einer Umarbeitung. Man könnte zwar sagen, das eigentlich Vortreffliche müsse für alle Zeiten vortrefflich sein, aber das Kunstwerk hat auch eine zeitliche, sterbliche Seite, und diese ist es, mit welcher eine Änderung vorzunehmen ist. Denn das Schöne erscheint für andere, und diejenigen, für welche es zur Erscheinung gebracht wird, müssen in dieser äußeren Seite der Erscheinung zu Hause sein können.

In dieser Aneignung nun findet alles dasjenige seinen Grund und seine Entschuldigung, was man in der Kunst Anachronismen zu nennen und den Künstlern gewöhnlich als einen großen Fehler anzurechnen pflegt. Zu solchen Anachronismen gehören zunächst bloße Äußerlichkeiten. Wenn Falstaff z. B. von Pistolen spricht, so ist dies gleichgültig. Schlimmer schon wird es, wenn Orpheus mit einer Violine in der Hand dasteht, indem hier der Widerspruch mythischer Tage und solch eines modernen Instruments, von dem jeder weiß, daß es in so früher Zeit noch nicht erfunden war, allzu grell hervortritt. Man nimmt sich deshalb jetzt auch auf Theatern z. B. mit solchen Dingen erstaunlich in acht, und die Direktionen halten in Kostüm und Ausstattung sehr auf historische Treue, wie z. B. der Zug in der Jungfrau von Orleans auch von dieser Seite viele Mühe gekostet hat, eine Mühe, welche jedoch überhaupt in den meisten Fällen verschwendet ist, indem sie nur das Relative und Gleichgültige betrifft. Die wichtigere Art der Anachronismen besteht nicht in den Trachten und anderweitigen ähnlichen Äußerlichkeiten, sondern darin, daß in einem Kunstwerke die Personen in der Art sich aussprechen, Empfindungen und Vorstellungen äußern, Reflexionen anstellen, Handlungen begehen, welche sie ihrer Zeit und Bildungsstufe, ihrer Religion und Weltanschauung nach unmöglich haben und ausführen konnten. Auf diese Art des Anachronismus wendet man gewöhnlich die Kategorie der Natürlichkeit an und meint, es sei unnatürlich, wenn die dargestellten Charaktere nicht so reden und handeln, als sie zu ihrer Zeit würden geredet und gehandelt haben. Die Forderung aber solcher Natürlichkeit, einseitig festgehalten, führt sogleich zu Schiefheiten. Denn der Künstler, wenn er das menschliche Gemüt mit seinen Affekten und in sich substantiellen Leidenschaften schildert, darf dies bei aller Bewahrung der Individualität dennoch nicht so schildern, wie sie im gewöhnlichen Leben alltäglich vorkommen, da er jedes Pathos nur in einer demselben schlechthin gemäßen Erscheinung ans Licht fördern soll. Dafür allein ist er Künstler, daß er das Wahrhafte kenne und in seiner wahren Form vor unsere Anschauung und Empfindung bringe. Bei diesem Ausdruck hat er deshalb die jedesmalige Bildung seiner Zeit, Sprache usf. zu berücksichtigen. Zur Zeit des Trojanischen Kriegs ist die Ausdrucksart und ganze Lebensweise ebensowenig von einer Ausbildung gewesen, wie wir sie in der Ilias wiederfinden, als die Masse des Volks und die hervorragenden Gestalten der griechischen Königsfamilien eine so ausgebildete Anschauungs- und Ausdrucksweise hatten, wie wir sie im Aischylos oder in der vollendeten Schönheit des Sophokles bewundern müssen. Eine solche Verletzung der sogenannten Natürlichkeit ist ein für die Kunst notwendiger Anachronismus. Die innere Substanz des Dargestellten bleibt dieselbe, aber die entwickelte Bildung macht für den Ausdruck und die Gestalt eine Umwandlung nötig. Ganz anders freilich stellt sich die Sache, wenn Anschauungen und Vorstellungen einer späteren Entwicklung des religiösen und sittlichen Bewußtseins auf eine Zeit oder Nation übertragen werden, deren ganze Weltanschauung solchen neueren Vorstellungen widerspricht. So hat die christliche Religion Kategorien des Sittlichen zur Folge gehabt, welche den Griechen durchaus fremd waren. Die innere Reflexion z. B. des Gewissens bei der Entscheidung dessen, was gut und schlecht sei, Gewissensbisse und Reue gehören erst der moralischen Ausbildung der modernen Zeit an; der heroische Charakter weiß von der Inkonsequenz der Reue nichts; was er getan hat, das hat er getan. Orest hat um des Muttermordes willen keine Reue, die Furien der Tat verfolgen ihn zwar, aber die Eumeniden sind zugleich als allgemeine Mächte und nicht als die inneren Nattern seines nur subjektiven Gewissens dargestellt. Diesen substantiellen Kern einer Zeit und eines Volkes muß der Dichter kennen, und erst wenn er in diesen innersten Mittelpunkt Entgegenstrebendes und Widersprechendes hineinsetzt, hat er einen Anachronismus höherer Art begangen. In dieser Rücksicht also ist an den Künstler die Forderung zu machen, daß er sich in den Geist vergangener Zeiten und fremder Völker hineinlebe, denn dies Substantielle, wenn es echter Art ist, bleibt allen Zeiten klar; die partikuläre Bestimmtheit aber der bloß äußeren Erscheinung im Roste des Altertums mit aller Genauigkeit des einzelnen nachbilden zu wollen ist nur eine kindische Gelehrsamkeit um eines selbst nur äußerlichen Zweckes willen. Zwar ist auch nach dieser Seite hin wohl eine allgemeine Richtigkeit zu verlangen, welcher jedoch das Recht, zwischen Dichtung und Wahrheit zu schweben, nicht darf geraubt werden.

 


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