Die Psychoanalyse eines Falles von hysterischer Hypochondrie

 

Ich griff nun zu einem Mittel der ›aktiven Technik‹3). Ich schickte die Patientin für einen Tag nach Hause, damit sie Gelegenheit hatte, die Gefühle, die ihr die Kinder einflößen, mit Hilfe der neugewonnenen Aufklärungen zu revidieren. Zu Hause ergab sie sich nun wieder leidenschaftlich der Liebe und Pflege des kranken Kindes und sagte dann triumphierend in der darauffolgenden Stunde: »Sehen Sie, alles ist nicht wahr! Ich liebe doch nur meine Älteste!« etc. Doch schon in derselben Stunde mußte sie sich unter heftigem Weinen dessen Gegenteil eingestehen; ihrem impulsiv-leidenschaftlichen Wesen entsprechend, kamen ihr nämlich plötzliche Zwangseinfälle, in denen sie dieses Kind erdrosselte, aufhängte etc. oder es verfluchte: »Gottes Blitz soll in dich hineinschlagen.« (Dieser Fluch war ihr aus der Folklore ihrer Heimat geläufig.)

Die weitere Fortsetzung der Kur ging auf dem Wege der Übertragungsliebe. Die Patientin zeigte sich ernstlich verletzt über die rein medizinische Behandlung ihres wiederholten Liebesantrages und wies dabei unwillkürlich auf ihren außerordentlich starken Narzißmus hin. Einige Stunden verloren wir mit dem Widerstand, den diese Verletzung ihrer Eitelkeit und Eigenliebe hervorrief, doch bot dies uns die Gelegenheit zur Reproduktion ähnlicher ›Beleidigungen‹, an denen ihr Leben überaus reich war. Ich konnte ihr nachweisen, daß sie jedesmal, wenn sich eine ihrer zahlreichen Schwestern verlobte (sie war die jüngste unter ihnen), sich über die Hintansetzung ihrer Person verletzt fühlte. Ihre Eifer- und Rachsucht ging so weit, daß sie eine Verwandte, die sie mit einem jungen Manne ertappte, aus purem Neid verklagte. - Trotz ihrer anscheinenden Reserviertheit und ihres Insichgekehrtseins war sie sehr selbstbewußt und hatte von den eigenen körperlichen und geistigen Eigenschaften eine hohe Meinung. Um sich vor der Gefahr ihr allzu schmerzlicher Enttäuschungen zu schützen, zog sie es vor, trotzig abseits zu bleiben, wo es sich um eine Konkurrenz mit anderen Mädchen handelte. Nun verstand ich auch die merkwürdige Phantasie, die sie in einer ihrer pseudo-dementen Anwandlungen äußerte: sie stellte sich wieder einmal als den (irrsinnigen) Vater vor und behauptete, mit sich seiher den Geschlechtsverkehr ausführen zu wollen.  

Auch die Krankheit ihres Kindes wirkte nur infolge der - recht verständlichen - Identifizierung so überstark auf sie, die übrigens schon früher einmal einige empfindliche Verletzungen ihrer eigenen körperlichen Integrität auszustehen hatte. Auch sie kam mit einem Körperfehler zur Welt: sie schielte und wurde in der Jugend einer Schieloperation unterzogen, vor der sie die heftigste Angst zu überstehen hatte und fast wahnsinnig wurde beim Gedanken, sie könnte erblinden.  

Wegen dieses Schielens war sie übrigens schon in ihrer Kindheit der Gegenstand des Spottes ihrer Gespielen und Gespielinnen.  

Allmählich kamen wir auch zur Deutung der einzelnen hypochondrischen Empfindungen. Jenes Gefühl in der Kehle war der Ersatz für den Wunsch, ihre schöne Altstimme hören und bewundern zu lassen. Die »Punkte«, die aus der Kopfhaut »herauskamen«, waren kleines Ungeziefer, das einmal - zu ihrer großen Beschämung - auf ihrem Kopf entdeckt wurde; die »Verlängerung der Ohren« ging darauf zurück, daß sie einmal in der Schule vom Lehrer ein »Esel« geschimpft wurde usw.  

Die fernste Deckerinnerung, bis zu der wir vordringen konnten, war die mutuelle Exhibition, die sich zwischen ihr und einem gleichaltrigen Knaben auf dem Dachboden ihres Hauses abspielte, und ich stehe nicht an, hinter dieser Szene den stärksten der die Patientin getroffenen Eindrücke zu vermuten. Der Penis-Neid, der sich dabei in ihr fixierte, war es wohl, was sie zur merkwürdig gelungenem Identifizierung mit dem Vater in ihren Delirien befähigte. (»Ich habe einen Penis« etc.) - In letzter Linie darf man also nicht so sehr die angeborene Abnormität ihrer Erstgeborenen als Krankheitsursache betrachten als vielmehr die Tatsache, daß ihr kein Knabe, sondern zwei Mädchen (Wesen ohne Penis, die nicht - wie die Knaben - ordentlich urinieren können) geboren wurden. Daher wohl auch der unbewußte Abscheu vor der Inkontinenz ihrer kranken Tochter. Es scheint übrigens auch, daß die Krankheit ihrer Erstgeborenen erst dann stärker auf sie einzuwirken begann, als sich auch das zweite Kind als Mädchen entpuppte.  

Von einem zweiten Urlaub in die Heimat kehrte die Patientin ganz verändert zurück. Sie versöhnte sich mit der Idee, daß sie die jüngere lieber hat, daß ihr der Tod der kranken Tochter erwünscht ist usw., sie hörte auf über hypochondrische Sensationen zu klagen und befaßte sich mit dem Plane, bald endgültig nach Hause zu gehen. Hinter dieser plötzlichen Besserung entdeckte ich aber auch den Widerstand gegen die Beendigung der Kur. Aus der Analyse ihrer Träume mußte ich auf paranoides Mißtrauen gegen die Ehrlichkeit des Arztes schließen; sie glaubte, daß ich die Kur in die Länge ziehen wollte, um ihr mehr Geld abzunehmen. - Ich versuchte von hier aus den Zugang zu ihrer mit dem Narzißmus verknüpften Analerotik zu finden (s. die infantile ›Irriga-tor-Angst‹), dies gelang mir aber nur zum Teil. Die Patientin zog es vor, einen Rest ihrer neurotischen Eigenheiten zu bewahren und ging - praktisch wohl geheilt - nach Hause.4)

Abgesehen vom ungewöhnlich raschen Krankheitsablauf bietet uns die Epikrise dieses Falles noch manches Interessante. Wir haben es hier mit einem Gemenge von rein hypochondrischen und von hysterischen Symptomen zu tun, dabei schillerte das Krankheitsbild am Beginn der Analyse ins Schizophrene, gegen das Ende, wenn auch nur spurweise, ins Paranoische hinüber.  

Bemerkenswert ist der Mechanismus einzelner hypochondrischer Parästhesien. Sie beruhen ursprünglich auf der narzißtischen Bevorzugung des eigenen Körpers, wurden aber dann - etwa nach Art des »körperlichen Entgegenkommens« - zu Ausdrucksmitteln hysterischer (ideogener) Vorgänge (z. B. das Gefühl der Verlängerung der Ohren zum Erinnerungsmerkmal eines erlittenen psychischen Traumas).  

Man wird so auf noch ungeklärte Probleme der organischen Grundlagen der Konversionshysterie und der Hypochondrie aufmerksam. Es hat den Anschein, als ob dieselbe Organ-Libidostauung5) - je nach der Sexualkonstitution der Kranken - einen rein hypochondrischen oder aber einen konversionshysterischen ›Überbau‹ bekommen könnte. In unserem Falle handelte es sich anscheinend um die Kombination beider Möglichkeiten, und die hysterische Seite der Neurose ermöglichte die Übertragung und die psychoanalytische Abtragung der hypochondrischen Sensationen. Wo diese Abfuhrmöglichkeit nicht besteht, bleibt der Hypochonder unzugänglich und verbohrt sich - oft auch wahnhaft - in die Empfindung und Beobachtung seiner Parästhesien.  

Die reine Hypochondrie ist unheilbar; nur wo - wie auch hier - übertragungsneurotische Beimengungen vorhanden sind, kann man die psychotherapeutische Beeinflussung mit Aussicht auf Erfolg versuchen.  

 

3) Siehe ›Technische Schwierigkeiten einer Hysterieanalyse‹  

4) Hier noch einige Ergebnisse: Die Zwangsempfinduag »Der Kopf gebt vorn auseinander« war der Ausdruck einer ›nach oben‹ verlegten Schwangerschaftssehnsucht. Sie wünschte sich neue Kinder (Knaben) an Stelle der vorhandenen (der Kranken und des anderen Mädchens). »Es gibt wieder nichts Neues!« - pflegte sie auf die Stirne deutend immer zu wiederholen; auch dies gehörte zum Schwangersdiaftskomplex. Die Patientin hatte zweimal - nicht ganz zufällig - abortiert und bedauerte das unbewußt. Das Herzklopfen war die Reminiszenz libidinöser Anwandlungen bei Begegnung mit sympathischen jungen Leuten, die ihr potent vorkamen. (Potent sein, hieß bei ihr: Knaben und überhaupt gesunde Kinder zeugen können.) Die »Punkte«, die herauskommen, waren überdeterminiert. Sie bedeuteten nicht nur Ungeziefer, sondern (wie so häufig) auch kleine Kinder. - Zwei charakteristische Träume: 1. Sie sieht aufgehängte Säcke (Geldsäcke?). (Deutung: Wenn sie einsieht, daß sie ihr Kind aufhängen will, kann sie sich das weitere Honorar ersparen.) i. Eine Schwester tanzt cake-walk; der Vater ist auch dabei. (Reproduktion der Brautnacht, bei der sie durch die Idee, daß der Vater in der Anstalt ist, am Genuß gestört war.)  

5) S. den Aufsatz ›Von Krankheits- oder Pathoneurosen‹.

 


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