II. Fragen der Patienten
Entscheidungen während der Kur
Ich machte es mir zur Regel, jedesmal, wenn der Patient eine Frage an mich richtet oder eine Auskunft verlangt, mit einer Gegenfrage zu antworten, der nämlich, wie er zu dieser Frage kommt. Hätte ich ihm einfach geantwortet, so wäre die Regung, die ihn zu dieser Frage bewog, durch die Antwort beseitigt worden; so aber wenden wir das Interesse des Patienten den Quellen seiner Neugierde zu, und wenn wir seine Frage analytisch behandeln, vergißt er zumeist, die ursprüngliche Frage zu wiederholen; er zeigt uns damit, daß ihm an diesen Fragen eigentlich gar nichts gelegen war und daß sie nur als Äußerungsmittel des Unbewußten eine Bedeutung hatten.
Besonders schwierig gestaltet sich aber die Situation, wenn der Patient sich nicht mit einer beliebigen Frage, sondern mit der Bitte an uns wendet, in einer für ihn bedeutsamen Angelegenheit, z. B. in der Wahl zwischen zwei Alternativen, die Entscheidung zu treffen. Das Bestreben des Arztes muß immer darauf gerichtet sein, Entscheidungen so lange hinauszuschieben, bis der Patient durch die in der Kur zu gewinnende Sicherheit in die Lage kommt, selbständig zu handeln. Man tut also gut daran, der vom Patienten betonten Notwendigkeit der sofortigen Entscheidung nicht ohne weiteres Glauben zu schenken, sondern auch an die Möglichkeit zu denken, daß solche anscheinend sehr aktuelle Fragen vielleicht von dem Patienten selbst unbewußt in den Vordergrund geschoben wurden, wobei er entweder das eben anzuschneidende Analysenmaterial in die Form der Problemstellung kleidet oder sein Widerstand sich dieses Mittels bemächtigt, um den Fortgang der Analyse zu stören. Bei einer Patientin war letzteres so typisch, daß ich ihr in der gerade herrschenden Kriegsterminologie erklären mußte, sie werfe mir, wenn sie keinen anderen Ausweg mehr finde, solche Probleme wie Gasbomben entgegen, um mich zu verwirren. Selbstverständlich kann der Patient während der Kur wirklich einmal über Bedeutsames unaufschiebbar zu entscheiden haben; es ist gut, wenn wir auch in diesen Fällen möglichst wenig die Rolle des geistigen Lenkers nach Art eines directeur de conscience spielen, sondern uns mit der des analytischen confesseur begnügen, der alle (auch die dem Patienten unbewußten) Motive möglichst klar von allen Seiten beleuchtet, den Entscheidungen und Handlungen aber keine Richtung gibt. Diesbezüglich steht die Psychoanalyse in diametralem Gegensatze zu allen bisher geübten Psychotherapien, der suggestiven wie der ›überzeugende‹.
Unter zweierlei Umständen kommt auch der Psychoanalytiker in die Lage, in den Lebenslauf des Patienten unmittelbar einzugreifen. Erstens, wenn er sich überzeugt, daß die Lebensinteressen des Kranken wirklich unaufschiebbar zu einer Entscheidung drängen, zu der der Patient allein noch unfähig ist; in diesem Falle muß sich aber der Arzt dessen bewußt sein, daß er dabei nicht mehr als Psychoanalytiker handelt, ja, daß aus seinem Eingreifen für den Fortgang der Kur gewisse Schwierigkeiten erwachsen können, z.B. eine unerwünschte Verstärkung des Übertragungsverhältnisses. Zweitens kann und muß der Analytiker zeitweise auch insofern ›aktive Therapie‹ betreiben, als er den Patienten dazu drängt, die phobieartige Unfähigkeit zu irgendeiner Entscheidung zu überwinden. Er erhofft von den Veränderungen der Affektbesetzungen, die diese Überwindung mit sich bringt, den Zugang zu bisher unzugänglichem unbewußtem Material.3)
3) Siehe dazu meinen Aufsatz ›Technische Schwierigkeiten einer Hysterieanalyse‹ und Freuds Vortrag auf dem V. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß in Budapest, 1918: ›Wege der psychoanalytischen Therapie‹.