IV. Die Bewältigung der Gegenübertragung
Der Psychoanalyse - der überhaupt die Aufgabe zugefallen zu sein scheint, Mystik zu zerstören - gelang es, die einfache, man möchte sagen, naive Gesetzmäßigkeit aufzudecken, die auch der kompliziertesten medizinischen Diplomatie zugrunde liegt. Sie entdeckte die Übertragung auf den Arzt als das wirksame Moment bei jeder ärztlichen Suggestion, und stellte fest, daß eine solche Übertragung in letzter Linie nur die infantil-erotische Beziehung zu den Eltern, der gütigen Mutter oder dem gestrengen Vater, wiederholt, und daß es von den Lebensschicksalen oder der konstitutionellen Anlage des Patienten abhängt, ob und inwieweit er der einen oder der anderen Suggestionsart zugänglich ist.4)
Die Psychoanalyse entdeckte also, daß die Nervenkranken wie Kinder sind und als solche behandelt werden wollen. Intuitive ärztliche Talente wußten dies auch vor uns, wenigstens handelten sie so, als wüßten sie es. Der Zulauf zu manchem ›groben‹ oder ›liebenswürdigen‹ Sanatoriumsarzt erklärt sich daraus.
Der Psychoanalytiker aber darf nicht mehr nach Herzenslust milde und mitleidsvoll oder grob und hart sein und abwarten, bis sich die Seele des Kranken dem Charakter des Arztes anpaßt; er muß es verstehen, seine Anteilnahme zu dosieren, ja, er darf sich seinen Affekten nicht einmal innerlich hingeben, denn das Beherrschtsein von Affekten oder gar von Leidenschaften schafft einen ungünstigen Boden zur Aufnahme und richtigen Verarbeitung von analytischen Daten. Da aber der Arzt immerhin ein Mensch, und als solcher Stimmungen, Sym- und Antipathien, auch Triebanwandlungen zugänglich ist, - ohne solche Empfänglichkeit hätte er ja kein Verständnis für die Seelenkämpfe des Patienten, - so hat er in der Analyse fortwährend eine doppelte Arbeit zu leisten: einesteils muß er den Patienten beobachten, das von ihm Erzählte prüfen, aus seinen Mitteilungen und seinem Gebaren sein Unbewußtes konstruieren; andernteils hat er gleichzeitig seine eigene Einstellung dem Kranken gegenüber unausgesetzt zu kontrollieren, wenn nötig, richtigzustellen, das heißt die Gegenübertragung (Freud) zu bewältigen.
Die Vorbedingung dazu ist natürlich das Analysiertsein des Arztes selbst; aber auch der Analysierte ist von Eigenheiten des Charakters und aktuellen Stimmungsschwankungen nicht so unabhängig, daß die Beaufsichtigung der Gegenübertragung überflüssig wäre.
Über die Art, wie die Kontrolle der Gegenübertragung einzugreifen hat, ist es schwer, etwas Allgemeines zu sagen; es gibt hier allzu viele Möglichkeiten. Will man einen Begriff davon geben, so tut man wohl am besten, wenn man Beispiele aus der Erfahrung heranzieht.
Am Anfang der analytisch-ärztlichen Tätigkeit ahnt man natürlich von den Gefahren, die von dieser Seite her drohen, am wenigsten. Man ist in der seligen Stimmung, in die einen die erste Bekanntschaft mit dem Unbewußten versetzt, der Enthusiasmus des Arztes überträgt sich auch auf den Patienten, und der frohen Selbstsicherheit verdankt der Psychoanalytiker überraschende Heilerfolge. Es unterliegt keinem Zweifel, daß diese Erfolge nur zum kleineren Teil analytisch, zum größeren aber rein suggestiv, das heißt Übertragungserfolge sind. In der gehobenen Stimmung der Honigmonate der Analyse ist man natürlich auch von der Berücksichtigung, geschweige denn von der Beherrschung der Gegenübertragung himmelweit entfernt. Man unterliegt allen Affekten, die das Verhältnis Arzt-Patient nur hervorzubringen vermag, läßt sich von traurigen Erlebnissen, wohl auch von Phantasien der Patienten rühren, entrüstet sich über alle, die ihnen übelwollen und ihnen Übles antun. Mit einem Wort, man macht sich alle ihre Interessen zu eigen und wundert sich dann, wenn der eine oder der andere Patient, in dem unser Betragen irreale Hoffnungen erweckt haben mag, plötzlich mit leidenschaftlichen Forderungen auftritt. Frauen verlangen vom Arzt geheiratet, Männer von ihm erhalten zu werden, und konstruieren aus seinen Äußerungen Argumente für die Berechtigung ihrer Ansprüche. Natürlich kommt man über diese Schwierigkeiten in der Analyse leicht hinweg; man beruft sich auf ihre Übertragungsnatur und benützt sie als Material Zur weiteren Arbeit. Man bekommt aber so einen Einblick in die Fälle, wo es in der nichtanalytischen oder wildanalytischen Therapie zu Beschuldigungen oder gerichtlichen Anklagen gegen den Arzt kommt. Die Patienten entlarven eben in ihren Anklagen das Unbewußte des Arztes. Der enthusiastische Arzt, der in seinem Heilungsund Aufklärungsdrange seine Patienten ›hinreißen‹ will, beachtet nicht die kleinen und großen Zeichen von unbewußter Bindung an den Patienten oder an die Patientin, doch diese perzipieren sie nur zu gut und konstruieren aus ihnen ganz richtig die ihr zugrunde liegende Tendenz, ohne zu ahnen, daß sie dem Arzte selbst nicht bewußt war. Bei solchen Anklagen haben also merkwürdigerweise beide gegnerischen Parteien recht. Der Arzt kann es beschwören, daß er - bewußt - nichts anderes als die Heilung des Kranken beabsichtigte; doch auch der Patient hat recht, - denn der Arzt hat sich unbewußt zum Gönner oder Ritter seines Klienten aufgeworfen und ließ das durch verschiedene Anzeichen merken.
Die psychoanalytische Aussprache schützt uns natürlich vor solchen Unzukömmlichkeiten; immerhin kommt es vor, daß die mangelhafte Berücksichtigung der Gegenübertragung den Kranken in einen Zustand versetzt, der nicht mehr rückgängig zu machen ist, und den er als Anlaß zur Unterbrechung der Kur benützt. Man muß sich eben damit abfinden, daß jede neue psychoanalytisch-technische Regel den Arzt einen Patienten kostet.
Hat dann der Psychoanalytiker die Würdigung der Gegenübertragungssymptome mühsam erlernt und es erreicht, daß er in seinem Tun und Reden, ja, auch in seinem Fühlen alles kontrolliert, was zu Verwicklungen Anlaß geben könnte, so droht ihm die Gefahr, ins andere Extrem zu verfallen und den Patienten gegenüber allzu schroff und ablehnend zu werden; dies würde das Zustandekommen der Übertragung, die Vorbedingung jeder erfolgreichen Psychoanalyse, hintanhalten oder überhaupt unmöglich machen. Diese zweite Phase könnte als Phase des Widerstandes gegen die Gegenübertragung charakterisiert werden. Die übergroße Ängstlichkeit in dieser Hinsicht ist nicht die richtige Einstellung des Arztes, und erst nach Überwindung dieses Stadiums erreicht man vielleicht das dritte: nämlich das der Bewältigung der Gegenübertragung.
Erst wenn man hier angelangt ist, wenn man also dessen sicher ist, daß der dazu eingesetzte Wächter sofort ein Zeichen gibt, wenn die Gefühle gegen den Patienten im positiven oder negativen Sinne das richtige Maß zu überschreiten drohen: erst dann kann sich der Arzt während der Behandlung so ›gehen lassen‹, wie es die psychoanalytische Kur von ihm fordert.
Die analytische Therapie stellt also an den Arzt Anforderungen, die einander schnurstracks zu widersprechen scheinen. Einesteils verlangt sie von ihm das freie Spielenlassen der Assoziationen und der Phantasie, das Gewährenlassen des eigenen Unbewußten; wir wissen ja von Freud, daß uns nur hiedurch ermöglicht wird, die im manifesten Rede- und Gebärdenmaterial versteckten Äußerungen des Unbewußten des Patienten intuitiv zu erfassen. Anderenteils muß der Arzt das von seiner und des Patienten Seite gelieferte Material logisch prüfen und darf sich in seinen Handlungen und Mitteilungen ausschließlich nur vom Erfolg dieser Denkarbeit leiten lassen. Mit der Zeit lernt man es, das Sichgehenlassen auf gewisse automatische Zeichen aus dem Vorbewußten zu unterbrechen und die kritische Einstellung an seine Stelle zu setzen. Diese fortwährende Oszillation zwischen freiem Spiel der Phantasie und kritischer Prüfung setzt aber beim Arzt eine Freiheit und ungehemmte Beweglichkeit der psychischen Besetzungen voraus, wie sie auf einem anderen Gebiete kaum gefordert wird.
4) ›Introjektion und Übertragung.‹