Die Psyche ein Hemmungsorgan
Einige Bemerkungen zu Dr. F. Alexanders Aufsatz: ›Metapsychologische Betrachtungen‹
(1922)
In der interessanten Arbeit, in der Alexander die von Freud isolierten Sexual-(Lebens-)Triebe und Ich-(Todes-)Triebe mit allgemeinsten biologischen und physikalischen Gesetzen verknüpfen will, steht unter anderem: »Ich möchte Sie nun bitten, meine Behauptung von der rein hemmenden Funktion des Systems ›Bewußtsein‹ gut zu überprüfen. Das System ›Bewußtsein‹ wird doch von Freud als etwas Aktives aufgefaßt, welches die Motilität beherrscht. Und in diesem System oder an seiner Grenze soll durch die Zensur eine exquisit aktive Tätigkeit ausgeübt werden. Den Bewußtseinsakt als eine rein passive Wahrnehmung äußerer und innerer Vorgänge aufzufassen, liegt der psychoanalytischen Theorie fern ...1) Und doch, wenn wir das psychoanalytische Material durchprüfen, so finden wir, daß alle positiv gerichtete Aktivität von den tieferen Schichten stammt, daß dynamisch in letzter Analyse nur die Triebe wirken. Eine einzige Kraftleistung, welche den höheren Systemen, dem Bewußtsein zukommt, ist eine hemmende: die Verdrängung, das Zurückhalten der Triebentwicklung oder der Triebbefriedigung oder höchstens die Lenkung der Triebe.«
Diese Gedanken als solche folgen konsequent aus der psychoanalytischen Betrachtung der Seelenvorgänge und entsprechen speziell meiner eigenen Überzeugung hierüber; einige Irrtümer aber, die sie enthalten, dürfen nicht unwidersprochen bleiben.
1. Die Auffassung des Bewußtseinsaktes als rein passive Leistung liegt der psychoanalytischen Theorie nicht nur nicht fern, sondern galt von jeher als ein allgemein bekannter Bestandteil derselben. Schon in der ›Traumdeutung‹, wo Freud zum erstenmal die topische Lokalisation der seelischen Funktionen in ›psychische Systeme‹ versuchte, spricht er vom Bewußtsein als von einem Sinnesorgan für (unbewußt) psychische Qualitäten, womit der passive Wahrnehmungscharakter des Bewußtseinsaktes klar gekennzeichnet ist. Aber auch das Vorbewußte (das Alexander etwas zu schematisch mit dem Bewußten vermengt, obzwar letzteres eine neuerliche Überbesetzung zur Voraussetzung hat) wird von Freud stets als ein durch auswählende Tätigkeit der Zensur zustande kommendes System aufgefaßt, das sich aus dem tiefer und den Trieben näherliegenden Unbewußten durch Hemmung und Niveau-Erhöhung ergibt.
2. Diese Auffassung ist nicht nur die persönliche Ansicht Freuds, sondern wird von allen psychoanalytischen Autoren geteilt. Ich kann mich hier auf eine eigene Arbeit aus dem Jahre 1915 beziehen, die das von Alexander Behauptete nicht nur für das Bewußtsein, sondern für das Psychische überhaupt postuliert. Ich will die bezügliche Stelle ausführlich zitieren.
»Das Mystische und Unerklärliche, das in jedem Willens- oder Aufmerksamkeitsakte immer noch steckt, schwindet zum größten Teil, wenn wir uns zu folgender Annahme entschließen: Das Primäre beim Aufmerksamkeitsakt ist die Hemmung aller Akte mit Ausnahme der intendierten. Wenn alle Wege, die zum Bewußtsein führen, mit Ausnahme eines einzigen gesperrt werden, so fließt die psychische Energie spontan, ohne daß hiezu eine eigene ›Anstrengung‹ nötig wäre (was überdies auch unvorstellbar wäre), in die einzige, offengelassene Richtung. Will ich etwas aufmerksam anschauen, so tue ich das, indem ich alle Sinne mit Ausnahme des Gesichtssinnes vom Bewußtsein absperre, das gesteigerte Aufmerken bei optischen Reizen kommt dann von selbst zustande, gleichwie die Steigung des Flußniveaus von selbst zustande kommt, wenn die mit ihm kommunizierenden Kanäle abgesperrt werden. Ungleiche Hemmung ist also das Wesen jeder Aktion; der Wille ist nicht wie die Lokomotive, die auf den Schienen dahinbraust, sondern er gleicht mehr dem Weichensteller, der vor der an sich qualitätslosen Energie - der eigentlichen lokomotorischen Kraft - alle Wege mit Ausnahme eines einzigen verschließt, so daß sie den einzigen offengebliebenen befahren muß. Ich vermute, daß dies für alle Arten von ›Aktionen‹, also auch für die physiologischen gilt, daß also die ›Innervation‹ einer bestimmten Muskelgruppe eigentlich nur aus der Hemmung aller Ant-agonisten resultiert.«2)
Diese Sätze, die alle psychischen, ja auch die komplizierteren physiologischen Vorgänge als ›Zielhemmungen‹ primitiver Triebbefriedigungstendenzen (den eigentlichen Motoren der Aktion) auffassen, blieben bisher unwidersprochen, wohl weil sie sich in die psychoanalytische Theorie gut einfügen.
3. Die von Alexander aufgestellte Behauptung, nach der Freud »im System Bw oder an seiner Grenze durch die Zensur eine exquisit aktive Tätigkeit« postuliert, ist nicht richtig. Auch Freud faßte die Tätigkeit der Zensuren nie anders denn als Lenkung der Triebe, d. h. als Hemmung primitiver Ablaufsweisen auf. Das ›Kapital‹ zu jedem psychischen Unternehmen liefern auch nach Freud die Triebe, während die höheren Instanzen, an sich machtlos, nur für die Anordnung der gegebenen Triebkräfte sorgen.
4. Nach alledem ist es wohl für jeden zweifellos, daß Freud auch das Beherrschtwerden der Motilität durch das Vorbewußte niemals so meinte, als enthielte das Vorbewußte etwa eigene motorische Kräfte, die zur Muskulatur abfließen, sondern so, daß das Vorbewußte den Zugang zur Motilität beherrscht, also gleichwie im oben gebrauchten Bilde der Weichensteller, den aus tieferen Quellen stammenden Triebkräften den motorischen Ablauf gestattet oder verweigert.
5. Selbstverständlich gilt diese psychoanalytische Auffassung für alle ›höheren‹, ›sozialen‹, seelischen Leistungen des Vorbewußten, also sowohl für die Intellektualität als auch für die Moral und die Ästhetik. Sagt uns doch Freud gelegentlich ganz ausdrücklich, daß der ›Vervollkommnungsdrang‹ der Menschen nichts anderes ist als eine immer und immer wiederholte Reaktion gegen die im Unbewußten fortlebenden und stets nach Befriedigung verlangenden primitiven, amoralischen Triebe. Auch wenn diese Tendenzen sekundär eine scheinbare Selbständigkeit erlangen, ist und bleibt ihre eigentliche Quelle immer das Triebleben, während die Rolle der höheren Systeme sich in der ›sozialen‹ Umsetzung, Abschwächung, Anordnung der Triebkräfte, also in ihrer Hemmung erschöpft.
6. Diese Überlegungen schließen aber durchaus nicht aus, daß ein sehr frühzeitig, vielleicht schon im Moment der Entstehung des Lebens abgespaltener Teil der Triebbefriedigungstendenzen sowie dessen Abkömmlinge eine relative Autonomie erlangen, sich als ›Regenerations-, Fortpflanzungs-, Lebens- und Vervollkommnungstriebe‹ etabliert haben und sich so den egoistischen Ruhe- und Todestrieben immer wieder gegenüberstellen. Man kann also - entgegen der Alexanderschen Auffassung — die Freudsche Idee der selbständig organisierten, immanenten Lebenstriebe ganz gut akzeptieren. Bleibt man sich nur dabei des ab ovo stets exogenen Ursprungs dieser Triebe bewußt, so entgeht man der Gefahr, dem Mystizismus, etwa der mystischen ›évolution créatrice‹ Bergsons zu verfallen.
Die an sich löbliche Neigung Alexanders, den Monismus der Welt in Sicherheit zu bringen, darf und braucht ihn also nicht dazu zu verführen, die psychoanalytisch und biologisch überall nachweisbare Zweiheit der Kräfte vorzeitig abzulehnen. Ist es doch nicht nur reizvoller, sondern auch korrekter und auch heuristisch aussichtsvoller, die Konflikte der miteinander ringenden Kräfte genau zu verfolgen, bevor man zur philosophischen Vereinheitlichung aller psychophysiologischen Dynamik schreitet.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich übrigens darauf hinweisen, daß der Begriff ›Monismus‹ selbst nicht eindeutig bestimmt ist. Es gibt gewiß viele unter uns, die gerne voraussetzen, daß schließlich alles Physische, Physiologische und auch Psychische auf elementare Gesetzmäßigkeiten riickführbar sein wird; diese können wohl in gewissem Sinne für Monisten gelten. Die Annahme solcher Gesetzmäßigkeit auf allen Gebieten menschlicher Erfahrung ist aber nicht identisch mit dem Monismus, der bei der Erklärung dieser Erscheinungen mit einem Prinzip auskommen zu müssen glaubt.
1) Von mir kursiviert.
2) ›Analyse von Gleichnissen‹.