Psychoanalyse und Pädagogik *
(1908)
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Das eingehende Studium der Werke Freuds und selbst durchgeführte Psychoanalysen können jeden darüber belehren, daß eine fehlerhafte Erziehung die Quelle nicht nur von Charakterfehlern, sondern auch von Krankheiten sein kann, ja daß die heutige Kindererziehung die verschiedensten Neurosen förmlich hochzüchtet. Indem wir unsere Patienten analysieren und dabei - ob wir wollen oder nicht - auch unser eigenes Selbst und dessen Entwicklungen einer Revision unterziehen müssen, kommen wir zur Überzeugung, daß sogar eine von edelsten Intentionen geleitete, unter den günstigsten Verhältnissen durchgeführte Erziehung - da sie auf die allgemein herrschenden fehlerhaften Prinzipien gegründet ist - die natürliche Entwicklung des Menschen in mancher Hinsicht schädlich beeinflusst, so daß, wenn wir trotzdem gesund geblieben sind, wir dies nur unserer robusteren, widerstandsfähigeren seelischen Organisation zu verdanken haben. Wir erfahren übrigens bald, daß auch derjenige, der zufällig nicht krank geworden ist, der Unzweckmäßigkeit der pädagogischen Methoden und Auffassungen viel überflüssige Seelenqual zuzuschreiben hat, und daß die Persönlichkeit der meisten Menschen infolge derselben schädlichen Erziehungseinflüsse mehr oder minder unfähig geworden ist, die naturgegebenen Freuden des Lebens unbefangen zu genießen.
Wie selbstverständlich drängt sich also wohl jedem die Frage auf, welchen praktischen Nutzen die Pädagogik aus diesen Erfahrungen ziehen könnte? Die Frage ist keine rein wissenschaftliche, sie verhält sich zu der uns hauptsächlich interessierenden Disziplin, der Psychologie, wie die Gartenbaukunst zur Botanik. Wenn wir aber schon sehen, daß Freud von einem gleichfalls praktischen Wissenszweig, der Neurosenpathologie, ausgehend ungeahnte psychologische Ausblicke gewinnen konnte, dürfen wir vor einem Ausflug in das Gebiet der Kindergärtnerei nicht zurückschrecken. Ich will vorwegnehmen, daß ich die Frage durch einen Einzelnen unlösbar erachte. Das Zusammenwirken unser aller ist hierzu notwendig, darum habe ich den Gegenstand hier als Frage aufgerollt und bitte alle Kollegen, in erster Linie aber Prof. Freud, sich hierüber zu äußern. Die allgemeinen Gesichtspunkte, die sich mir aufgedrängt haben, möchte ich aber zuvor in Kürze mitteilen.
Die Tendenz, sich schmerz- bzw. reizlos zu erhalten, das sog. Unlustprinzip, müssen wir mit Freud als den ursprünglichen und natürlichen Regulator des psychischen Apparates ansehen, wie es beim Neugeborenen erscheint. Trotz der späteren Überlagerung durch kompliziertere Mechanismen bleibt ein gleichsam sublimiertes Unlustprinzip auch in der Seele des erwachsenen Kulturmenschen vorherrschend, mit der natürlichen Tendenz, bei der mindestmöglichen Belastung die meistmögliche Befriedigung zu erleben. Dieser Tendenz müßte jede Pädagogik Rechnung tragen. Die heute herrschende tut das aber nicht; sie belastet die Seele mit mehr Zwang, als es selbst die genug drückenden äußeren Verhältnisse fordern, sie tut das, indem sie die Verdrängung, eine ursprünglich zweckmäßige Schutzvorrichtung, die aber im Übermaß zu Krankheitserscheinungen führt, großzieht. [Anhang I, S. 8 f.].
Das vorläufig ins Auge zu fassende Ziel der pädagogischen Reform wäre, die kindliche Seele von der Belastung unnötiger Verdrängung zu verschonen. Die spätere, bedeutendere Aufgabe wäre eine solche Reform der sozialen Einrichtungen, die den freien Abfluss des nicht sublimierten Teiles der Wunschregungen ermöglicht. Den Vorwurf der ›Kulturfeindlichkeit‹ solcher Ansichten dürfen wir unbeachtet lassen. Für uns bedeutet die Kultur keinen ›Selbstzweck‹, sondern ein möglichst zweckmäßiges Mittel zur Kompromißbildung zwischen eigenen und fremden Interessen. Läßt sich das durch weniger komplizierte Mittel erreichen, so braucht uns vor dem Worte ›Reaktion‹ nicht bange zu sein. Als selbstverständliche Grenze jener Freiheit wird das Respektieren der berechtigten und natürlichen Interessen Anderer stets aufrecht bleiben müssen. Die Unkenntnis der wirklichen Psychologie des Menschen und Nichtbeachtung derselben bei der Erziehung haben zur Folge, daß in der heutigen gesellschaftlichen Existenz überhaupt zahlreiche krankhafte Erscheinungen, Äußerungen der illogischen Arbeitsweise des Verdrängten zu beobachten sind. Handelte es sich bloß um die zu Neurosen spezifisch disponierten Individuen, so dürfte man ihrethalben an der bestehenden Ordnung nicht rütteln. Ich stütze mich aber auf eine mündliche Äußerung Prof. Freuds, wenn ich auch die übertriebene Ängstlichkeit der meisten Kulturvölker, ihre Todesfurcht und Hypochondrie auf die anerzogene Verdrängung der Libido zurückführe. Aber auch das Festhalten an unsinnigen religiösen Aberglauben und Gebräuchen des Autoritätskultus, das Sich-Anklammern an abgelebte Gesellschaftseinrichtungen, all das sind pathologische Erscheinungen der Volksseele, völkerpsychologische Zwangsvorstellungen und Zwangshandlungen, deren Triebkräfte unbewußte, durch falsche Erziehung großgezogene, verdrängte Wunschregungen sind. [Anhang II, S. 9 ff.]
In den lesenswerten Vorlesungen über die erzieherischen Pflichten der Ärzte wirft der Breslauer Kinderarzt Prof. Czerny den Eltern vor, daß sie ihre Kinder darum nicht erziehen können, weil sie sich an ihre eigene Kindheit gar nicht oder falsch erinnern. Wir können ihm zustimmen, könnten ihm sogar auf Grund des von Freud Gelehrten erzählen, welch ein merkwürdiger seelischer Mechanismus diese infantile Amnesie verursacht. Jedenfalls ist diese allein eine zureichende Erklärung dafür, daß die Pädagogik seit undenklichen Zeiten keinen nennenswerten Fortschritt zu verzeichnen hat. Es ist eben ein Circulus vitiosus. Das Unbevußte läßt die Erwachsenen ihre Kinder unrichtig erziehen - die falsche Pädagogik führt dann bei den Kindern zur Anhäufung unbewußter Komplexe. Irgendwo rnuß man in diesen Zirkel eingreifen. Sofort mit einer radikalen Reform der Kindererziehung hervorzutreten, wäre ein aussichtsloses Beginnen. Viel mehr könnte man sich von der Korrektur der infantilen Amnesie durch Aufklärung der Erwachsenen versprechen. Der erste und wichtigste Schritt zur Besserung wäre also meiner Ansicht nach die Verbreitung der Kenntnisse über die wirkliche Psychologie des Kindes, die wir Freud verdanken. Diese Massenaufklärung wäre ein Heilmittel der an übertriebenen Verdrängungen leidenden Menschheit, eine Art innere Revolution, die übrigens jeder Einzelne von uns, der Freuds Lehren akzeptiert hat, selbst durchgemacht haben muß. Die Befreiung von unnötigem innerem Zwang wäre die erste Revolution, die der Menschheit eine wirkliche Erleichterung schüfe, während es sich bei politischen Revolutionen nur darum handelt, daß die äußeren Mächte, d. h. Zwangsmittel aus einer Hand in die andere wandern oder daß die Zahl der Bedrängten steigt oder fällt. Erst die so befreiten Menschen wären dann imstande, einen radikalen Umsturz in der Pädagogik herbeizuführen und hiedurch der Wiederkehr ähnlicher Zustände für immer vorzubeugen.
Nebst dieser Vorarbeit für die Zukunft dürften wir aber auch die Sache der heute heranwachsenden Generationen nicht vernachlässigen und müßten feststellen, was sich schon heute an der Kindererziehung im Sinne unserer besseren Einsicht ändern läßt.
Zuvor muß man sich aber mit dem Einwand der Nativisten auseinandersetzen, die der Erziehung jede Wirksamkeit absprechen und die ganze psychische Entwicklung für eine organisch präformierte halten. Die von Freud erhärtete Ansicht, daß eine und dieselbe Sexualkonstitution je nach der weiteren Verarbeitung der Affektzuflüsse verschiedene Ausgänge zuläßt, und daß Kindheitserlebnisse den weiteren Entwicklungsgang mitbestimmen, spricht für die Wirksamkeit des erzieherischen Momentes. Nicht nur ungünstige Zufälle, auch die zielbewußte günstige Beeinflussung, d. i. die Erziehung, kann sich die kindliche Haftbarkeit und Fixierbarkeit nutzbar machen.
Zur Reform der Erziehungsgrundsätze halte ich die Kooperation mit den Kinderärzten, die sich bei der Menge eines großen Einflusses erfreuen, für wünschenswert. Auch könnten sie durch die unmittelbare Beobachtung des kindlichen Seelenlebens neue Stützen für die Schlüsse darbringen, die wir nach Freud aus dem Traumleben Gesunder und den Symptomen Psychoneurotiker auf die Arbeitsweise und den Entwicklungsgang der Kinderseele ziehen. Es ist anzunehmen, daß diese Beobachtungen auch auf die Neurosenpsychologie nicht ohne fruchtbare Rückwirkung bleiben.
* Vortrag, gehalten auf dem I. Psychoanalytischen Kongress in Salzburg (1908).
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