Psychoanalyse und Pädagogik. Anhang II
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Der Anästhesie hysterischer Frauen und der Impotenz neurotischer Männer entspricht die seltsame und naturwidrige Tendenz unserer Gesellschaft zur Askese (Abstinentismus, Vegetarismus, Antialkoholismus usw.). Gleichwie hinter den übertriebenen Reaktionen der unbewußt Perversen, den krankhaften Reinlichkeitsprozeduren und der Oberanständigkeit verpönte schmutzige Gedanken und abgewehrte libidinöse Regungen lauern, so sehen wir, daß auch hinter der ehrfurcht-gebietenden Maske des überstrengen Moralisten alle jene Gedanken und Wunschregungen unbewußt vorhanden sind, die er bei anderen so stark verurteilt. Die Überstrenge schützt den Moralisten vor der Einsicht in sich selbst und ermöglicht ihm zugleich das geheime ›Ausleben‹ eines seiner verdrängten, unbewußten Wünsche, der Aggressivität.
All dies soll keine Anklage sein; die Besten unserer heutigen Gesellschaft sind Menschen dieser Art; es sollte nur gezeigt werden, in welcher Weise die auf die Verdrängung gegründete moralische Erziehung auch in den Gesunden ein gewisses Maß von Neurose hervorruft. Nur auf diese Weise werden solche sozialen Verhältnisse möglich, wo sich hinter dem Schlagwort der Vaterlandsliebe offenbar egoistische Tendenzen verstecken können, wo unter dem Namen Volksbeglückung das tyrannische Unterjochen der individuellen Freiheit propagiert wird, die Religiosität teils als Medikament gegen die Todesangst, teils als eine erlaubte Form der gegenseitigen Unduldsamkeit geehrt; wird und wo schließlich auf dem Gebiete der Sexualität niemand offen, zur Kenntnis nehmen will, was im Geheimen er selber tut. Neurose und hypokritischer Egoismus sind die Folgen der dogmatischen, die wahre Natur des Menschen nicht kennenden, nicht berücksichtigendem Erziehung. Was wir in erster Reihe verurteilen müssen, ist aber nicht der Egoismus, ohne den kein Lebewesen denkbar wäre, sondern die Hypokrisie, dieses bezeichnendste Symptom der Neurose des heutigen Kulturmenschen.
Es gibt Leute, welche wissen, daß all dies wahr ist, und denen trotzdem bei dem Gedanken bange wird, was wohl von der menschlichen Kultur übrig bliebe, wenn die Erziehung, der Lebenslauf des Menschen nicht mehr durch diese unappellierbaren und keine Erklärung zulassenden dogmatischen Prinzipien überwacht würden. Werden die von ihren Fesseln befreiten egoistischen Triebe nicht alle Werke der Jahrtausende alten menschlichen Kultur vernichten? Gibt es einen Ersatz für den kategorischen Imperativ der Moral?
Die Psychologie hat uns bereits gelehrt, daß es einen solchen Ersatz wirklich gibt. Wenn am Ende der psychoanalytischen Behandlung der bis dahin neurotisch Kranke die unbewußten, von der herrschenden Moral oder von der eigenen bewußt-moralischen Auffassung verpönten Wünsche und Tendenzen seiner Seele kennengelernt hat: erfolgt die Heilung seiner Symptome. Und dies erfolgt auch dann, wenn der Wunsch, der sich im neurotischen Symptom symbolisch offenbarte, zufolge unbezwingbarer Hindernisse auch weiterhin unbefriedigt bleiben muß. Die Psychoanalyse führt also nicht etwa zur zügellosen Herrschaft der egoistischen, für das Individuum eventuell unzweckmäßigen Triebe, sondern zur Befreiung von den die Selbsterkenntnis hindernden Vorurteilen, zur Einsicht in die bisher unbewußten Motive und zur Kontrolle über die nunmehr bewußt gewordenen Velleitäten [Neigungen].
Die Verdrängung wird durch die bewußte Verurteilung abgelöst, sagt Freud. Die äußeren Verhältnisse, die Lebensführung brauchen sich kaum zu ändern.
Der Mensch mit einer wahren Selbsterkenntnis, abgesehen von dem erhebenden Gefühl, welches ihm dieses Wissen verschafft, wird bescheiden. Gegen die Fehler anderer nachsichtig, zum Verzeihen geneigt, beansprucht er für sich aus dem Spruch »tout comprendre c'est tout pardonner« nur das Verstehen - fühlt sich nicht berufen, zu vergeben. Er analysiert die Motive seiner Affekte und verhindert dadurch, daß sie in Leidenschaften ausarten. Die unter verschiedenen Schlagworten kämpfenden Menschengruppen betrachtet er mit einer Art von heiterem Humor, läßt sich in seinen Handlungen nicht von der großmäuligen ›Moral‹, sondern von der nüchternen Zweckmäßigkeit führen, welche ihn auch anspornt, diejenigen seiner Wünsche, deren Befriedigung die Rechte anderer Menschen beeinträchtigen würde (d. h. welche in ihren Reaktionen für ihn selbst gefährlich werden können), einzuschränken und gewissenhaft zu überwachen, ohne aber ihre Existenz zu verleugnen.
Wenn ich vorhin behauptet habe, daß heute die ganze Gesellschaft neurotisch ist, so wollte ich damit nicht etwa eine entfernte Analogie, ein Gleichnis aufstellen. Und es ist keine poetische Wendung, sondern meine ernste Überzeugung, daß das einzige Medikament gegen diese gesellschaftliche Krankheit die unverhüllte Einsicht in die wahre und volle Natur des Menschen ist, vornehmlich aber in die heute nicht mehr unzugängliche Werkstatt des unbewußten Seelenlebens; ihre Prophylaxe aber: die auf die Einsicht, auf die Zweckmäßigkeit und nicht mehr auf Dogmen basierte, richtiger erst aufzubauende Pädagogik.
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