Psychoanalyse und Pädagogik

 

Einstweilen scheinen die neuen Lehren dem Verständnis und dem Interesse der Pädiater ganz zu entgehen. Um so interessanter ist es, daß nichtsdestoweniger zahlreiche Berührungspunkte zwischen der Freudschen Psychologie und den von Freud gar nicht angesteckten pädiatrischen Beobachtungen sich von selbst ergeben.

Nehmen wir das oben zitierte Buch Czernys zum Muster, so sehen wir mit Vergnügen, welch große Wirkung er der richtigen Behandlung des Kindes schon im ersten Lebensjahr für dessen spätere psychische Entwicklung zuschreibt. Mit Freuds Terminologie würden wir die Frage so stellen: soll man überhaupt, und wie soll man das Kind während der fast ausschließlichen Herrschaft des unbewußten psychischen Systems erziehen? 

Nach dem, was wir von der späteren Rolle der unbewußten Triebregungen wissen, müssen wir uns auf den Standpunkt stellen, daß man die motorischen Entladungen des Kindes so wenig wie möglich hemmen soll. Von diesem Standpunkte halte ich das auch heute übliche Wickeln, d. h. Fesseln des Kindes, für verwerflich. Das Kind soll sich ›austoben‹. Das einzige, was in diesem Lebensalter einer ›Erziehung‹ gleichkäme, wäre eine richtige Dosierung der auf das Kind einwirkenden äußeren Reize. - Czerny hat vollkommen recht, wenn er die allzufrühe Fesselung der Aufmerksamkeit der Kinder durch starke optische und akustische Reize verurteilt.

Als Beruhigungsmittel erwähnt Czerny das Nahrungsverabreichen, natürlich nur in hygienisch richtigen Zeitabständen, auch hält er das von vielen Ärzten verdammte Schaukeln, Wiegen und Ludein für vollkommen harmlose Maßnahmen. Wüßte er aber von den späteren möglichen Folgen der übertriebenen Reizung einer erogenen Zone und von den sexuellen Nebenwirkungen der rhythmischen Erschütterung, so würde er in all diesen Dingen zur Vorsicht mahnen. Es ist ja sicher, daß die Kinder dieser und ähnlicher Sensationen für ihre volle sexuelle Entwicklung bedürfen, aber eine vernünftige Kinderpflege wird diese im Übermaß nicht unschädlichen Reize quantitativ abstufen müssen. Interessant ist, daß unser Autor für die Ernährung an der Mutterbrust auch damit argumentiert, daß nur hiedurch jene psychischen Beziehungen zwischen Mutter und Kind zur Entfaltung gelangen, »die man am höchsten schätzt, wenn sie zwischen Eltern und Kindern vorhanden sind«. Eine wahre Beobachtung, zugleich aber eine sehr vorsichtige Umschreibung des ausgesprochen sexuellen Charakters dieser Beziehungen.

Das sexuelle Thema wird in diesem - wie überhaupt allen ähnlichen Werken - sehr stiefmütterlich behandelt; wenige Bemerkungen über die Säuglingsonanie sind alles, was man uns bietet. Wüßten die Kinderärzte nur etwas von Freuds Entdeckungen, so beurteilten sie das Küssen des Kindes auf den Mund nicht nur vom Standpunkte der Infektionsmöglichkeit und hielte z. B. Escherich die Frage des Wonnesaugens durch seine Entdeckung des antiseptischen Borsäureschnullers nicht für erledigt.  

Die einzige Quelle unserer Einsicht in dieses Gebiet sind Freuds ›Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie‹. Die dort niedergelegten Erfahrungen müßte man also pädagogisch zu verwerten suchen und darüber nachdenken, ob und wie man die Prävalenz von erogenen Zonen, Partialtrieben, Inversionsneigungen verhüten und übermäßige Reaktionsbildungen hintanhalten soll. Die Pädagogik müßte sich aber vor Augen halten, daß es sich nicht darum handelt, diese beim Aufbau der normalen Sexualität unentbehrlichen Komponenten zu ersticken, sondern nur darum, daß sie die ihnen zugewiesenen Schranken nicht überschreiten. Eine umsichtige Kindererziehung wird es zu erreichen wissen, daß den sexuellen Affektverwandlungen, Verdrängungsschüben die krankmachende Wirkung benommen wird. Das heutige Vorgehen, bei dem man die Kinder in den heftigsten Krisen ihrer sexuellen Entwicklung ohne Stütze und Unterweisung, ohne Erklärung und Beruhigung allein läßt, ist eine Grausamkeit. Die der Intelligenzstufe des Kindes entsprechende sukzessive Aufklärung muß hier Wandel schaffen. Erst wenn die Geheimnistuerei in sexuellen Fragen aufhört, wenn man über die Vorgänge im eigenen Körper und in der eigenen Seele richtige Vorstellungen hat, kann man die sexuellen Affekte wirklich beherrschen und sublimieren, während das ins Unbewußte Verdrängte unserer Kontrolle entzogen ist und als ein wesensfremdes Element die Ruhe des Seelenlebens stört. Der Doppelsinn im Worte >selbstbewußt< beweist, daß das Volk die Beziehung zwischen Selbsterkenntnis und Charakter dunkel ahnen muß.  

Wie man aber der möglichen Durchbrechung der sexuellen Latenzzeit, der Fixierung auto-erotischer Mechanismen, inzestuöser Phantasien, den leider so häufigen Verführungen durch Erwachsene vorbeugen könnte, davon kann ich mir einstweilen keine Vorstellung machen. Die Methoden der Korrektion: Belohnung, Befehl, Strafe, körperliche Züchtigung, bedürfen einer genauen Revision. Hier wird am meisten gesündigt und oft der Keim späterer Neurosen eingeimpft.  

Daß andererseits auch die Verzärtelung der Kinder seitens Erwachsener, die Überhäufung mit Liebesbezeugungen unheilvolle Spätwirkungen zeugen können, ist jedem, der nur einige Analysen gemacht hat, selbstverständlich. Sind erst die Eltern über die Tragweite all dieser Dinge im Reinen, dann wird gerade ihre Liebe zum Kinde sie von Übertreibungen abhalten.  

Der Entwicklung der Sprachsymbolik und des höheren psychischen Systems, der fast ausschließlichen Objekte der heutigen Pädagogik, wird man selbstverständlich nach wie vor die größte Aufmerksamkeit schenken und die Kinder mit entsprechenden Spielen und rationellem Unterricht beschäftigen. Die Erkenntnis, daß das Denken in Worten eine neuerliche Besetzung des Trieblebens bedeutet, wird die mit der fortschreitenden Bildung parallel steigende Fähigkeit des Kindes zur Selbstbeherrschung den Lehrern erklärlich machen. Die Zügellosigkeit taubstummer Kinder dürfte ja gerade auf den Entgang dieser Überbesetzung zurückzuführen sein. Allenfalls müßte dafür gesorgt werden, daß der Unterricht etwas unterhaltender wird und der Lehrer nicht als gestrenger Tyrann, sondern wie ein Vater - dessen Vertreter er eigentlich ist - mit den Kindern umgeht.  

Ob es je gelingen wird, den Charakter des Menschen durch entsprechende Beeinflussung in der ersten Kindheit zu lenken und zu formen, dies zu entscheiden, wird die Aufgabe einer zukünftigen experimentellen Pädagogik sein. Nach dem, was wir von Freud in allerletzter Zeit erfahren haben - ich denke an den Artikel ›Charakter und Analerotik‹ -, ist eine solche Disziplin nicht ganz undenkbar. Es muß aber noch sehr viel gearbeitet und gelernt werden, ehe man ernstlich daran denken kann, diese Idee in die Tat umzusetzen.  

Doch auch ohne diese neue Hilfswissenschaft wird der Sieg der Freudschen Lehren in der Pädagogik viel Gutes schaffen können. Eine diesen Lehren entsprechende rationellere Kindererziehung wird einen großen Teil der drückenden psychischen Lasten wegräumen. Und werden auch die Menschen - da sie keine so kolossalen Hindernisse mehr zu überwinden haben - auch keine so intensiven Lustbefriedigungen erleben, so wird ihnen dafür ein ruhigeres, heiteres Dasein zuteil, das bei Tage nicht durch überflüssige Ängstlichkeit, bei Nacht nicht durch Angstträume gequält ist.  

 


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