I. Der ›Familienroman der Erniedrigung‹


Vor Jahren wurde ich telegraphisch in einen fashionablen Winterkurort zu einer jungen Komtesse als Consiliarius berufen. Diese Berufung überraschte mich nicht wenig, erstens weil man, besonders damals, in aristokratischen Kreisen der Psychoanalyse im allgemeinen sehr wenig Interesse entgegenbrachte, dann auch, weil auch der mir übrigens befreundete Kollege, ein älterer Privatdozent der Chirurgie, gleichfalls kein Freund unserer Wissenschaft war. Das Rätsel löste sich aber, sobald mir nach meiner Ankunft die Krankengeschichte erzählt wurde. Die junge Gräfin hatte sich beim Rodeln ein Bein gebrochen, sei dabei bewußtlos geworden und habe in diesem Zustand laut die greulichsten und obszönsten Flüche, Schimpfworte und Redensarten herausgeschrien; dieser Sonderzustand habe sich seitdem einigemal wiederholt. »Das dürfte wohl doch ein Hysteriefall mit Freudscher Ätiologie sein«, sagte sich der Kollege und ließ mich kommen.  

Am anderen und dem darauf folgenden Tage hatte ich Gelegenheit, eine gleichsam psychoanalytisch gefärbte Anamnese des Falles aufzunehmen. Die Patientin war eine neunzehnjährige hübsche Person, von dem etwas weichlichen Vater verzärtelt, von der Mutter strenger, aber vorsorglich und liebevoll behandelt. Ihre Übertragung galt bereits ganz ausgesprochen dem sie behandelnden Chirurgen, der ihr vor etwa acht Tagen den Gips verband anlegte; mir gegenüber benahm sie sich viel reservierter, immerhin konnte ich mit Hilfe des Kollegen und der Eltern folgende Antezedentien feststellen: Die Patientin benahm sich seit jeher etwas sonderbar. Wenn irgend möglich, flüchtete sie sich aus den herrschaftlichen Appartements des Kastells, das sie bewohnten, ins Dienstbotenzimmer, wo sie sich besonders an eine Amme attachierte, die sie seit ihrer frühesten Kindheit betreut hatte. Auch nachdem diese Amme aus dieser Stellung schied und in einem entlegenen Nebenhause des Gutes Unterkunft fand, besuchte die Patientin, die inzwischen das Alter von 16 bis 18 Jahren erreichte, diese Vertrauensperson immer wieder, ja sie brachte gegen den Wunsch der Eltern ganze Tage bei ihr zu, war ihr bei den häuslichen Arbeiten, auch den niedrigsten, wie Scheuern der Dielen, Füttern des Viehs, Reinigung des Kuhstalls usw. behilflich. Nichts war ihr verhaßter als die Gesellschaft ihrer eigenen Klasse; sie war nur mit Not und Mühe dazu zu bringen, die unvermeidlichsten Besuche zu machen und zu empfangen. Ganz annehmbare aristokratische Bewerber wies sie ziemlich unwirsch ab.  

Vor einigen Jahren hatte sie eine Neurose durchgemacht, die mir die Mutter folgendermaßen schilderte: Plötzlich wurde die Patientin deprimiert, war stets verweint, verriet aber den Anlaß ihres Kummers niemandem. Die Mutter nahm sie mit nach Wien, in der Hoffnung, sie durch Unterhaltung aufzuheitern; ihr Gemütszustand besserte sich aber auch dort nicht. Eines Nachts kam sie weinend ins Schlafzimmer der Mutter, schlüpfte in ihr Bett und eröffnete ihr ihr Herz. Sie leide, sagte sie, an einer furchtbaren Angst, sie fürchte, man habe sie im bewußtlosen Zustande vergewaltigt. Das hätte sich auf ihrem Landgut zugetragen, als sie die Mutter einmal zur Bahn begleitete. Nach der Abreise der Mutter bestieg sie den Wagen und langte bald beim nahen Kastell an, die Rückfahrt kann nicht mehr als fünf Minuten gedauert haben. Aber unterwegs sei ihr nicht wohl gewesen, wahrscheinlich war sie sogar vorübergehend bewußtlos und diesen Zustand hätte der Kutscher zum besagten Attentat benützen können. Ob der Kutscher ihr wirklich etwas angetan hätte, daran könne sie sich nicht erinnern; sie weiß nur, daß, als sie erwachte, der Kutscher etwas zu ihr sagte, sie wisse nicht was. Die Mutter suchte sie zu beruhigen und setzte ihr auseinander, daß ihre Angst schon darum ganz grundlos sein müsse, da doch eine solche Tat bei Tage, im offenen Wagen, auf der lebhaft befahrenen Landstraße ganz unmöglich hätte ausgeführt werden können. Die nervöse Aufregung der Patientin legte sich aber erst, nachdem sie die Mutter von einer ganzen Reihe hervorragender Frauenärzte untersuchen ließ, die alle erklärten, daß sie körperlich unberührt sei.  

Während meines zwei Tage dauernden Aufenthaltes im Kurort konnte ich mich vergewissern, daß es sich um einen Fall von traumatisch exazerbierter Hysterie handelt, daß die rohen Flüche der Patientin irgendwie mit ihren bäuerischen Passionen und jener Vergewaltigungsphantasie zusammenhängen und daß der Fall nur psychoanalytisch aufgeklärt werden kann. Soviel konnte ich aber schon nach dem Gehörten vermutungsweise angeben, daß sich die Patientin, was übrigens auch von Augenzeugen bestätigt wurde, den Beinbruch durch Mutwillen, vielleicht aus irgendwelcher Selbstbestrafungstendenz, zuzog.  

Später erfuhr ich, daß sich die Patientin statt der vorgeschlagenen psychischen Kur zur Nachbehandlung ihres Unterschenkels in ein Sanatorium aufnehmen ließ, sich seither immer mehr für die Chirurgie interessierte, im Kriege sich als Pflegerin betätigte und trotz des Einspruchs der Eltern einen jungen Chirurgen jüdischer Abstammung heiratete.  

Ich war also nicht in der Lage, die Lücken dieser Krankengeschichte analytisch auszufüllen, mußte mir aber dennoch sagen, daß es sich hier unverkennbar um einen Fall von umgekehrtem neurotischen Familienroman, um einen ›Familienroman der Erniedrigung‹ handelte. Die geläufigen Familienromane der Neurotiker sind bekanntlich Größenphantasien über Rangerhöhungen der Eltern, die aus bescheiden bürgerlichen oder ärmlichen Verhältnissen zu aristokratischer oder gar königlicher Würde erhoben werden; ganz analoge Familienromane wiesen die psychoanalytischen Mythenforschungen Ranks in den bekanntesten Heldenmythen (Moses, Ödipus, Romulus und Remus usw.) nach, die alle, von vornehmen Eltern stammend, ausgesetzt, von armen Bauern oder gar von Tieren aufgezogen, schließlich doch wieder zu Ansehen gelangen. Nach Ranks sehr plausibler Auffassung sind die tierischen bzw. bäuerischen Pflegeeltern eines- und die vornehmen Eltern anderenteils nur Doublettierungen der Imagines der Eltern überhaupt.  

Während also im Mythos die ›primitiven‹ Eltern gewöhnlich als Vorläufigkeiten behandelt werden und den Vornehmen den Platz räumen müssen, sehnt sich meine Neurotika aus der vornehmen Welt in eine primitive zurück. Dieser anscheinend unsinnige Wunsch steht aber durchaus nicht vereinzelt da. Ich weiß es aus einer ganzen Reihe von Kleinkindergeschichten, daß sich sehr viele Kinder unter Bauern, Dienstboten, kleineren Leuten wohler fühlen als in der eigenen, viel feineren Häuslichkeit. Nicht selten zeigt sich eine besondere Sehnsucht der Kinder, das Nomadenleben der Zigeuner zu führen oder gar in ein Tier verwandelt zu werden. In diesen Fällen ist es das unverhüllte, noch dazu inzestuöse Liebesleben, das auf die Kinder verlockend wirkt und dem zu Liebe sie sogar auf Rang und Wohlstand verzichten möchten. Man könnte also in diesem Sinne ebensowohl von hilfreichen Dienstboten und Zigeunern reden, die dem Kind in seiner sexuellen Not bei stehen, wie so oft die ›hilfreichen Tiere‹ in den Märchen.  

 


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