Denken und Muskelinnervation

(1919)


Es gibt Menschen, die dazu neigen, jedesmal, wenn sie etwas durchdenken wollen, in der Bewegung, die sie gerade ausführen (z. B. im Gehen), innezuhalten und sie erst nach beendigtem Denkakt fortzusetzen. Andere wiederum sind außerstande, einen irgendwie komplizierten Denkakt in Ruhe auszuführen, sondern müssen dabei eine rege Muskeltätigkeit entfalten (vom Sitze aufstehen, herumgehen usw.). Die Personen der ersten Kategorie erweisen sich oft als stark gehemmte Menschen, bei denen jede selbständige Denkleistung die Überwindung innerer (intellektueller und affektiver) Widerstände erfordert. Die Individuen der zweiten Gruppe (welche man als ›motorischen Typus‹ zu bezeichnen pflegt) sind im Gegenteil Leute mit zu raschem Vorstellungsablauf und sehr reger Phantasie. Für den innigen Zusammenhang zwischen dem Denkakt und der Motilität spricht nun die Tatsache, daß der Gehemmte die durch Einstellung der Muskelinnervation ersparte Energie zum Überwinden von Widerständen beim Denkakt zu verwerten scheint, während der ›motorische Typus‹ allem Anschein nach Muskelenergie verschwenden muß, wenn er im Denkvorgang das sonst allzu ›leichte Überfließen der Intensitäten (Freud) mäßigen, d. h. seine Phantasie hemmen und logisch denken will. Die Größe der zum Denken erforderlichen ›Anstrengung‹ hängt - wie erwähnt - nicht immer von der begrifflichen Schwierigkeit der zu bewältigenden Aufgabe ab, sondern ist - wie uns Analysen zeigen - sehr oft affektiv bedingt; unlustbetonte Denkprozesse erfordern ceteris paribus größere Anstrengung, gehemmtes Denken erweist sich bei der Analyse sehr oft zensurbedingt, d. h. neurotisch. Bei Personen mit leichter Zyklothymie1) sieht man den Zuständen gehemmter und erleichterter Phantasietätigkeit Schwankungen der Lebhaftigkeit der Bewegungen parallellaufen. Aber auch beim ›Normalen‹ kommen zeitweise diese motorischen Symptome der Denkhemmung oder Erregung vor.2)  

Bei näherer Untersuchung findet man allerdings, daß der Anschein, als ob in diesen Fällen ganz einfach Muskelenergie in ›psychische Energie‹ umgewandelt würde, trügerisch ist. Es handelt sich um komplizierte Vorgänge, um die Spaltung der Aufmerksamkeit, bzw. um die Konzentration. Der Gehemmte muß seine Aufmerksamkeit ganz dem Denkorgan zuwenden, kann also nicht gleichzeitig eine (gleichfalls Aufmerksamkeit erfordernde) koordinierte Bewegung ausführen. Der Gedankenflüchtige hingegen muß seine Aufmerksamkeit zum Teil vom Denkakt ablenken, um die sich überstürzenden Gedankengänge einigermaßen zu verlangsamen.  

Der im Denken Gehemmte muß also beim Nachdenken nur die koordinierten Bewegungen einstellen, nicht aber den Aufwand an Muskelinnervation; bei näherem Zusehen findet man sogar, daß beim Nachdenken der Tonus der (ruhiggestellten) Muskulatur regelmäßig ansteigt.3) Und beim ›type moteur‹ handelt es sich nicht einfach um eine Erhöhung des Muskeltonus (des Innervationsaufwandes), sondern um die Einschaltung von Widerständen für die Aufmerksamkeit.  

Auch darf man nicht denken, daß die Unfähigkeit zum gleichzeitigen Denken und Handeln eine für die Neurose besonders charakteristische Erscheinung ist. Gibt es doch zahlreiche Fälle, in denen der Neurotiker eine umschriebene komplexbedingte Denksperre gerade durch übertriebene Rührigkeit und Lebhaftigkeit der nichtgesperrten Seelenbezirke maskiert.  

Die Psychoanalyse könnte viel zur Aufklärung dieser komplizierten Beziehungen zwischen psychischer Tätigkeit und Muskelinnervation beitragen. Ich verweise auf die von Freud wahrscheinlich gemachte Erklärung der Traumhalluzinationen, wonach diese einer rückläufigen Erregung des Wahrnehmungssystems (Regression) ihre Entstehung verdanken, die eine Folge der Schlafsperrung (Lähmung) am motorischen Ende des psychischen Apparates ist. Der zweite bedeutsame Beitrag, den die Psychoanalyse zur Kenntnis der Beziehungen zwischen Denkanstrengung und Muskelinnervation geleistet hat, ist Freuds Erklärung des Lachens beim witzigen oder komischen Eindruck; dieses ist nach seiner uns sehr plausiblen Erklärung die motorische Entladung überschüssig gewordener psychischer Anspannung. Schließlich sei noch auf die Breuer-Freudsche Ansicht über die Konversion psychischer Erregung in motorische bei der Hysterie und auf die Erklärung Freuds hingewiesen, wonach der an Zwangsvorstellungen Leidende eigentlich das Handeln durch Denken ersetzt.  

Das regelmäßige Parallellaufen motorischer Innervationen mit den psychischen Akten des Denkens und Aufmerkens, ihre gegenseitige Bedingtheit und vielfach nachzuweisende quantitative Reziprozität sprechen jedenfalls für eine Wesensgleichheit dieser Prozesse. Freud dürfte also recht behalten, wenn er das Denken für ein »Probehandeln mit Verschiebung kleinerer Besetzungsquantitäten« hält und auch die Funktion der Aufmerksamkeit, die die Außenwelt periodisch ›absucht‹ und den Sinneseindrücken ›entgegengeht‹, an das motorische Ende des psychischen Apparates verlegt.  

 

1) [Neigung zu zirkulären Gemütsschwankungen (Neurose oder Psychose), die periodisch manische oder depressive Züge aufweisen.]

2) Eine Patientin, die ihre Füße fast kontinuierlich zittern läßt (eine ticartige Gewohnheit bei ihr), verriet mir während der Analyse durch plötzliches Innehalten im Zittern stets den Moment, in dem ihr etwas einfiel, so daß ich sie immer mahnen konnte, wenn sie mir einen Einfall bewußt vorenthielt. Während der oft minutenlangen Assoziationsleere bewegte sie ihre Füße unaufhörlich.

3) Das Ansteigen des Muskeltonus beim Denkakt ist physiologisch erwiesen.


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