Zur Organisation der psychoanalytischen Bewegung 1)
(1910)
Die Psychoanalyse ist zwar eine noch junge Wissenschaft, ihre Geschichte aber schon reich genug an Ereignissen, die es der Mühe wert erscheinen lassen, für einen Augenblick in der Arbeit innezuhalten, die bisherigen Ergebnisse zu überblicken, Erfolge und Mißerfolge abzuwägen. Eine solche kritische Übersicht könnte unsere künftige Tätigkeit durch das Aufgeben unzweckmäßiger Arbeitsweisen ökonomischer, durch die Anwendung neuer, geeigneterer Methoden fruchtbringend gestalten. Solcher Bilanzen bedarf es im wissenschaftlichen Betrieb nicht minder als in Handel und Gewerbe. Die Kongresse - gewöhnlich nur Jahrmärkte der Eitelkeit, effektvoll aufgemachte Premieren wissenschaftlicher Neuigkeiten - hätten eigentlich die Aufgabe, solche wissenschaftspolitischen Probleme zu lösen.
Wie alle Neuerer und Bahnbrecher, hatten auch wir für unsere Sache nicht nur zu arbeiten, sondern auch zu kämpfen. Vom objektiven Standpunkt gesehen, ist die Psychoanalyse allerdings reine Wissenschaft, die die Lücken unseres Wissens über die Determiniertheit des seelischen Geschehens auszufüllen bestrebt ist. Aber diese rein wissenschaftliche Frage rührt so empfindlich an den wichtigsten Grundlagen des täglichen Lebens, an gewissen uns liebgewordenen Idealen, an den Dogmen des Familienlebens, der Schule, der Kirche, stört nebstbei so unangenehm die beschauliche Ruhe der Nervenärzte, die die parteilosen Richter über unsere Arbeit sein sollten, daß wir uns nicht wundern können, wenn man uns statt mit Tatsachen und Argumenten, mit wüstem Geschimpfe empfing. So wurden wir, sehr gegen unseren Wunsch, in einen Krieg verwickelt, in dem, - wie bekannt, die Musen schweigen, die Leidenschaften aber um so lauter toben, und auch Waffen für erlaubt gelten, die nicht aus dem Arsenal der Wissenschaft genommen sind. Es erging uns, wie den Friedenspropheten, die für die Verwirklichung ihrer Ideale - Krieg führen müssen.
1) Mit diesem Überblick unterbreitete der Autor dem II. Psychoanalytischen Kongreß in Nürnberg, 1910, seinen Vorschlag, daß sich die wissenschaftlichen Arbeiter der Psychoanalyse zu einer ›Internationalen Vereinigung‹ zusammenschließen mögen.
Inhalt:
|
|