Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychiatrie


Der praktisch Interessierte wird vielleicht inzwischen ungeduldig gewartet haben, etwas über die praktischen Erfolge der Psychoanalyse zu erfahren. Können wir mittels ihrer Anwendung tiefergehende, häufigere und raschere Erfolge erzielen, wenn alle anderen psychotherapeutischen Maßnahmen versagen? Ist sie die einzige Art der Psychotherapie, die zum Glück führt, und gibt es nicht Fälle, bei deren Behandlung andere Methoden vorzuziehen sind? Wenn ich diese Fragen offen beantworten will, muß ich denjenigen, die annehmen, daß das Motto des Chirurgen: Cito, tuto et jucunde auf die Psychoanalyse anwendbar ist, eine Enttäuschung bereiten. Die Analyse ist keine rasche, vielmehr eine sehr langsame Heilmethode. Eine Analyse dauert gewöhnlich Monate, in schweren Fällen Jahre. Das kann wohl kaum eine Annehmlichkeit genannt werden. Sie stellt auch nicht völlige Schmerzfreiheit in Aussicht, vielmehr gehört das geduldige Ertragen unvermeidlichen seelischen Leids, das auf realem Grunde ruht, zu den Dingen, die sie dem Patienten anzuerziehen hofft. Auch die Sicherheit des endgültigen Erfolges kann man höchstens mutmaßen. Auf keinen Fall gehört die Psychoanalyse in die Gruppe jener beneidenswerten Methoden, die - wie etwa die Hypnose - Symptome einfach wegblasen können. Sie setzt in die Dauer solcher Methoden kein Vertrauen und ist überzeugt, daß der durch einen solchen Vorgang aufgewirbelte Staub sich irgendwo ansetzen muß. Sie trachtet lieber, radikal die psychopathischen Brennpunkte zu säubern. Wenn irgendwo, ist das Sprichwort Si duo faciunt idem, non est idem hier am Platze. Die Psychoanalyse räumt ein, daß sie nicht für alle Fälle von Neurosen geeignet ist und daher auch andere Arten der Psychotherapie ihr Anwendungsfeld haben. Vorläufig ist sie für Massenbehandlung nicht geeignet. Was sie jedoch für die Zukunft erhofft, ist die Durchdringung der anderen Methoden mit ihrem Geiste. Der geschulte Analytiker wird als Hypnotiseur, als Psychotherapeut oder als Leiter einer Irrenanstalt viel Ersprießlicheres leisten und ein richtigeres Urteil haben als derjenige, der keinen Versuch macht, die wahrscheinliche Ätiologie der psychogenen Symptome im vorliegenden Material herauszufinden. In diesem Sinne dürfen wir ruhig voraussagen, daß keine Form der Psychotherapie sich auf die Dauer dem Einfluß der Ideen Freuds wird entziehen können. Schon heute trifft das in hohem Maße zu, wenn sich auch der Vorgang vorläufig unter verschiedenen Namen verbirgt.  

Die großen Veränderungen, die, seit Freuds Ideen durch die Mauern der Irrenhäuser drangen, sich auf dem Gebiete der Psychiatrie vollzogen haben, sind wohlbekannt. Man begnügt sich nicht mehr mit der überlieferten deskriptiven Methode des Einteilens der Fälle nach Symptomgruppen. Es entstand das Bedürfnis nach verständlichen Zusammenhängen und Beziehungen, die in der Literatur der Vor-Freudschen Zeit durchaus nicht im Vordergrund standen. Wir können voraussagen, daß sich die Irrenhäuser in psychotherapeutische Behandlungsstätten verwandeln werden, wo analytisch ausgebildete Ärzte sich mit jedem Fall täglich beschäftigen werden, womöglich eine Stunde täglich. Wie schwierig es auch sein wird, diesen Idealzustand zu erreichen, es wird doch kaum zu umgehen sein. Was der alte französische Meister der Psychiatrie, Pinel, seiner Herzensgüte folgend, äußerlich vollbrachte -die Erlösung des Geisteskranken von unnötigen Fesseln -, hat Freud von innen her wiederholt. Dank seiner Entdeckung haben die Symptome des Irren aufgehört, eine Sammlung von Abnormitäten zu sein, die der Gedankenlose als verrückt, lächerlich und sinnlos abzutun pflegte. Auch der Psychopath spricht eine Sprache, die dem entsprechend Ausgebildeten verständlich ist. So wurde die tiefe Kluft, die zwischen dem geistig Gesunden und dem geistig Gestörten klaffte, zum ersten Male überbrückt.  

Die große Umwälzung der Neurosenlehre und Psychiatrie, die Freud nicht bloß angebahnt, sondern in dreißig Jahren unermüdlichen Schaffens zu einer Art Abschluß gebracht hat, kann der Umwälzung in der inneren Medizin, die durch die klinischen Methoden der Perkussion, Auskultation, Temperaturmessung, der Röntgenstrahlen, Bakteriologie und Chemie herbeigeführt wurde, zur Seite gestellt werden. Auch vor diesen Entdeckungen gab es feinfühlige, erfolgreiche Ärzte. Heute jedoch würde sich kein vollsinniger Arzt ausschließlich auf sein Feingefühl verlassen und absichtlich darauf verzichten, sich objektiv von der Richtigkeit oder Unrichtigkeit seiner Überlegungen zu überzeugen. Die Psychoanalyse hat das Wissen von den Neurosen und Psychosen auf eine neue wissenschaftliche Stufe gehoben, und diese Tat kann nicht mehr ungeschehen gemacht werden. Natürlich gibt es mannigfache Arten, wie die Medizin aus Freuds Gedanken Nutzen ziehen kann. Eine wäre etwa, daß man die Psychoanalyse als selbständige Wissenschaft weiter unterdrückt und verdrängt, so daß ihre fruchtbaren Ideen auf allen möglichen Wegen in alle Wissenszweige sickern. Auf diese Art würden sie, wie unter ein Düngemittel gepflügt, den ästhetischen und ethischen Sinn feiner Gelehrter durch ihr unappetitliches Aussehen nicht beleidigen, und diese könnten sich beschaulich an den durch sie hervorgebrachten Blüten erfreuen. Doch ist es wohl überflüssig, diese Möglichkeit ernsthaft zu erörtern. Zum Glück war es dem Entdecker der Psychoanalyse beschieden, lange genug zu leben, um sein Werk fest zu verankern und es vor zahlreichen Auflösungsversuchen zu schützen.  

Freud gelang es auch, die verabsäumte Untersuchung der hinter dem Triebleben verborgenen Kräfte genügend zu vervollständigen, so daß er sich endlich der einleuchtenderen und annehmbaren Tätigkeit des Bewußtseins zuwenden konnte. Ich meine die Anfänge seiner wissenschaftlichen Ich-Psychologie, die schließlich in ausführlicher Form Erklärungen der höheren Seelentätigkeiten - Verstand, Gewissen, Sittlichkeit, Idealismus, usf. - brachte. Diese Erklärungen taten seinen Zeitgenossen bitter not. Ganz gewiß beschäftigte sich Freud mit den Verirrungen des Geschlechtslebens und den animalisdnen Aggressionstrieben nicht aus persönlicher Vorliebe, sondern nur, weil kein anderer Herkules da war, diesen Augiasstall in Ordnung zu bringen. Er war ein einfacher Erforscher der Wirklichkeit. Gesellschaftliche Ansichten und Vorurteile kümmerten ihn wenig. Dennoch erkannte er von Anfang an, daß neben dem Triebleben die Gewalt der verdrängenden Kräfte, soziale Anpassung und die Sublimierung dieser Kräfte Faktoren von gleicher, wenn nicht noch größerer Bedeutung für seine Lehre waren. Das Übersehen dieser Tatsache kann nur dem blinden Haß oder der blinden Furcht seiner Zeitgenossen zugeschrieben werden. Die Folge davon war, daß man behauptete, er wühle in den schmutzigen Trieben, und daß andere seine Lehren als ›Pansexualität‹ und ›gefährliche psychische Epidemie‹ brandmarkten.

Doch scheint sich die Periode dieser wütenden Angriffe ihrem Ende zu nähern. Wenn auch noch zaghaft, erheben sich mehr - darunter bedeutsame - Stimmen, Freuds Lehren zu bestätigen. Auffallend ist, daß diese Beglaubigungen nicht bloß von psychiatrischer Seite, sondern auch aus internistischen, gynäkologischen, kinderärztlichen und dermatologischen Kreisen kommen. Sie stellen fest, daß so mancher rätselhafte Fall in ihrem Spezialfach nur durch die psychoanalytische Erklärung faßlich und der Therapie zugänglich wurde. Die Berücksichtigung unbewußter psychischer Faktoren bei der Pathogenese von Erkrankungen scheint sich epidemieartig zu verbreiten. Der letzte, von mehreren hundert praktischen Ärzten besuchte psychotherapeutische Kongreß in Baden-Baden war ganz von psychoanalytischem Geist durchtränkt. Viele hervorragende Ärzte (ich erwähne bloß den Deutschen Georg Groddeck und den Wiener Felix Deutsch) beschäftigen sich intensiv mit der analytischen Therapie organischer Erkrankungen. Sicherlich sind dies bloß verheißungsvolle Anfänge, doch kann ihre künftige Bedeutung nicht in Abrede gestellt werden. Für die in so viele Spezialgebiete gespaltene Medizin war die Psychoanalyse ein Segen, denn sie mahnt daran, bei jeder Krankheitsform den Kranken sowohl wie die Krankheit zu behandeln. Das wurde als Prinzip stets anerkannt, doch mangels wirklichen psychologischen Wissens selten praktisch durchgeführt. Grob übertreibend könnte man sagen, daß die Medizin bisher handelte, als hätte der Patient nichts im Kopf und als ob die höchsten Verstandeskräfte, die wir die psychischen nennen, im Kampf der Organe gegen die Krankheit nicht eingriffen. Es ist sicherlich an der Zeit, den Ausdruck ›individuelle Behandlung des Patienten‹ ernst zu nehmen.


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