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Ein internationales Gesellschaftsspiel

Nichts ist anziehender, als wenn der Statistiker seine seriösen Verbindungen – Handelsbilanz und Sterblichkeit, Welttonnage und Baumwollernte – auf einen Augenblick links liegen läßt und mit Kunst, Literatur, Bühne und Film flirtet. Hierzu hat ihm die New Yorker Zeitschrift »Vanity Fair« in ihrer Aprilnummer den verführerischsten Anlaß gegeben. Sie legt ein »Complete Handbook of Opinion« vor. Mitarbeiter waren insgesamt zehn europäische und amerikanische Kapazitäten. Und ihre Aufgabe, innerhalb einer Skala von 0-25 in Punkten es auszusprechen, wie hoch in ihrer Schätzung die bedeutendsten Erscheinungen der Gegenwart und der Vergangenheit bis zurück in die Vorzeit stehen. Aber noch wichtiger als diese Zehn-Jury eines New Yorker Walhall, in deren Würde unter anderen Sherwood Anderson, Kerr, Molnar, Morand, Ezra Pound sich teilen – ist die ihnen entsprechende anonyme Instanz, die Redaktion von »Vanity Fair«, der man die Liste von mehr als 200 Namen verdankt, die für die Postamente dieser Ruhmeshalle in Betracht gezogen werden. Nennen wir vorab die Sieger: Shakespeare erreicht (mit durchschnittlich 21,9 Punkten) die Spitze, es folgt (mit 18,5) Voltaire, Dostojewski (mit 18,1) an der Spitze aller Modernen, Beethoven (18), Plato (17,9) usw. Aber das ist noch der banalere Aspekt des Ganzen, ebenso wie die Reihe der niedrigst Bewerteten. Dem europäischen Publikum ist von ihnen wahrscheinlich nur Maria von Rumänien bekannt, die es trotz ihres kürzlichen Besuchs in den Staaten nur auf 1,6 gebracht hat. Auch ist es nicht ohne Witz, daß einer der Preisrichter selbst, A. Guest, mit 0,1 hier den Rekord schlägt. Und es kann sehr nachdenklich stimmen, daß er bei der statistischen Selbstbegegnung, welche die Redaktion veranstaltet hat, indem sie einige Preisrichter in die Liste ihrer Ruhmesanwärter mit aufnahm, auch vor sich selber mit einer 0 ausgeht, während etwa Sherwood Anderson sich einen vornehmen Strich, Kerr eine weniger vornehme als überraschende 18 setzt. Um aber auf die Liste der Kandidaten zurückzukommen: Da treten nicht nur die Berühmtheiten ersten Ranges von Aeschylos und Aristoteles bis zu Richard Wagner und Oscar Wilde, nicht nur Jack Dempsey, Tex Ricard, Greta Garbo und Lilian Gish auf, sondern die Zeitschriften, Institutionen, Symbole, der American Mercury (die Zeitschrift von Mencken), die Birth Control (Geburteneinschränkung), die Freiheitsstatue und die Zehn Gebote. Nicht weniger frappant ist der begleitende Text, in dem die Redaktion die Ernte aus den sauber gefurchten statistischen Pflanzungen einbringt, die sich über zwei große Seiten dahinziehen. Da ist der charakterologische Ertrag: sie verzeichnet die kühlen und die enthusiastischen Temperamente, will sagen, sie errechnet, wer von den Zehn die größte, wer die kleinste Zahl von Punkten vergeben hat (Molnár und Sherwood Anderson streuen die Saat ihrer Hochachtung am üppigsten aus). Dann die statistischen Verwandtschaften: alles andere als Wahlverwandtschaft, möchte man glauben, wenn man Henry Ford und Abälard, Ruskin und Paul Whitman, Marcel Proust und die Zehn Gebote beisammen sieht, – dann wieder Wahlverwandtschaft? wenn Anatole France und Konfuzius, Attila und Marie Laurencin genau bis auf die Dezimale gleich rangieren. Die ausgezeichnete Redaktion hat die gleiche Projektion weltgeschichtlicher Geisterkämpfe in die Arena greller Aktualität schon einmal, vor sechs Jahren, doch mit charakteristischen Unterschieden, vorgenommen. Damals bestand das Schiedsgericht nur aus Amerikanern. Der statistische Wert des Spielchens der ohnedies, das dürfen wir im Vorbeigehen verraten, gleich Null ist – war damit um ein Unendlichkleines größer, sein Interesse für europäische Leser aber geringer. Damals gab es auch eine Minuswertung. Ford, Upton Sinclair und Walter Scott waren die Hauptleidtragenden bei diesem »Versuch, die negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen«. Das spannendste Moment in alledem wird doch immer die Selbstbewertung der Preisrichter sein. Und das führt auf den liebenswürdigen Ursprung dieses statistischen Gesellschaftsspieles zurück. Es soll nämlich von Morand stammen und sieht ursprünglich so aus: Jeder Mitspieler bekommt eine Karte, an deren linkem Rande ein Register von Charaktereigenschaften (Neigungen, Idiosynkrasien, Leidenschaften, Tugenden, Lastern usw.) entlang lauft, und neben jede von denen setzt er eine Ziffer, hoch, wenn er diese Eigenschaft bei sich entwickelt, niedrig, wenn er sie unentfaltet vermutet. Dann gibt er, nicht ohne die eigene Bewertung durch eine Falte verdeckt zu haben, das Blatt an den Nachbar. Und so gehen die Signaturkarten aller Mitspieler der Reihe nach um. Die Gesellschaft porträtiert sich in Ziffern. »Vanity Fair« hat den hübschen Einfall gehabt, diesen Zeitvertreib auf internationale Dimensionen zu bringen.