Kavaliersmoral
Je sicherer die Routine den Menschen erlaubt, aalglatt in allem ihrem Tun und Lassen dem harten Zugriff der Wahrheit zu entschlüpfen, desto feinsinniger werden sie sich mit konstruierten »Gewissensfragen«, »inneren Konflikten«, »ethischen Maximen« befassen. Das ist selbstverständlich, enthebt einen aber nicht der Aufgabe, diesen widerwärtigen Tatbestand aufzuzeigen, wo er sich breit macht. Und das ist kürzlich wieder sehr ungeniert in einer Kontroverse geschehen, die Ehm Welk über den Kafkaschen Nachlaß mit dessen Herausgeber, Max Brod, eröffnet hat. Brod hat im Nachwort zum »Prozeß« und zum »Schloß« mitgeteilt, daß Kafka ihm diese Werke zum eigenen Studium und unter der ausdrücklichen Bedingung übergeben habe, sie niemals drucken zu lassen, vielmehr später sie zu vernichten. Diesen Mitteilungen hat er dann die Darstellung der Motive folgen lassen, die ihn veranlaßten, sich über Kafkas Willen hinwegzusetzen. Nun waren es freilich nicht nur diese Motive, die es niemandem vor Ehm Welk erlaubten, die bequeme, äußerst naheliegende Anklage auf verletzte Freundespflicht zu erheben, mit deren energischer Zurückweisung wir es hier zu tun haben. Denn da stand ja nun einmal dieses erschütternde Kafkasche Werk, öffnete seine großen Augen, in die man blickte, war mit dem Augenblick seines Erscheinens ein Tatbestand, der die Lage so gründlich veränderte wie die Geburt eines Kindes noch den illegitimsten Beischlaf. Daher die Achtung, der Respekt; die mit dem Werk, auf das sie sich bezogen, auch dem Verhalten dessen gegolten haben und gelten, durch welchen wir es erst leibhaft besitzen. Daß die absurde Beschuldigung gegen Brod von keinem, dem das Werk von Kafka irgend nahesteht, erhoben werden konnte (und wie kann denn er selber heut uns nahestehen als durch sein Werk?), das ist ebenso sicher wie dies: daß nun, da sie einmal erhoben, sie sich in ihrer ganzen kümmerlichen Arroganz enthüllt, sowie man sie mit diesem Werke konfrontiert. Kafkas Werk, in dem es um die dunkelsten Anliegen des menschlichen Lebens geht (Anliegen, deren je und je sich Theologen und selten so wie Kafka es getan hat, Dichter angenommen haben), hat seine dichterische Größe eben daher, daß es dieses theologische Geheimnis ganz in sich selbst trägt, nach außen aber unscheinbar und schlicht und nüchtern auftritt. So nüchtern ist das ganze Dasein Kafkas und ist auch seine Freundschaft mit Max Brod gewesen. Nichts weniger als ein Orden und Geheimbund, sondern eine innige und vertraute, doch ganz und gar im Licht des beiderseitigen Schaffens und seiner öffentlichen Geltung stehende Dichterfreundschaft. Die Scheu des Autors vor der Publizierung seines Werks entsprang der Überzeugung, es sei unvollendet und nicht der Absicht, es geheim zu halten. Daß er von dieser seiner Überzeugung sich in der eigenen Praxis leiten ließ ist genau so verständlich, wie daß sie für den andern, seinen Freund, nicht galt. Dieser Tatbestand war ohne Zweifel für Kafka in den beiden Gliedern deutlich. Er hat nicht nur gewußt: ich habe selbst zugunsten des in mir noch Ungewordenen das was geworden ist, zurückzustellen, er wußte auch: der andere wird es retten und mich von der Gewissenslast befreien, dem Werk das Imprimatur selber geben oder es vernichten zu müssen. Hier wird nun Welks Entrüstung keine Grenzen kennen. Um Brod zu decken, Kafka Jesuitentricks, Kafka eine reservatio mentalis zuzumuten! Ihm diese tiefste Absicht beizulegen, daß dieses Werk erscheine und zugleich des Dichters Einspruch gegen dies Erscheinen! Jawohl, nichts anderes sprechen wir hier aus und fügen zu: die echte Treue gegen Kafka war, daß dies geschah. Daß Brod die Werke publizierte und zugleich des Dichters nachgelassenes Geheiß, es nicht zu tun. (Ein Geheiß, das Brod durch Hinweise auf Kafkas wechselnde Willensmeinung nicht abzuschwächen brauchte.) Ehm Welk wird hier nicht mehr mitgehen. Wir hoffen, er hat es schon längst aufgegeben. Sein Angriff ist ein Zeugnis für die Ahnungslosigkeit, mit der er allem gegenübersteht, was Kafka angeht. Diesem zweifach stummen Mann gegenüber hat seine Kavaliersmoral nichts zu suchen. Er soll nur machen, daß er vom hohen Pferde herunterkommt.