Glozel und Atlantis
Niemals fühlt sich das Publikum wohler, als wenn es eine umfassende Blamage exponierter Personen herannahen sieht. Während groß und klein sein Vergnügen an dem cas Léon Daudet hat – und ist es als Programmabfolge nicht unerreicht, dieser traurige Tod des Philippe Daudet und das Satirspiel um den Vater, das daraus hervorgeht? –, rollen sich in der Welt der Wissenschaft: zwei Aktionen ab, die ebenfalls, nach hochdramatischem Beginn, mit einem unversehenen Lacherfolge enden könnten. Im vorigen Jahre begannen in Glozel die Ausgrabungen des Dr. Morlet. Man wollte auf ein umfangreiches Depot prähistorischer Objekte aus dem Neolithikum (will sagen, etwa aus dem Jahre 3500 v.Chr.) gestoßen sein. Von Anfang an war ein Raunen um diese Dinge. Dr. Morlet unternahm seine Grabungen allein, nur von dem jungen Fradin, einem intelligenten – und vielleicht allzu anstelligen – Burschen aus der Gegend unterstützt. Bei diesen Grabungen, so erzählte man sich, sei es ursprünglich nicht sehr wissenschaftlich zugegangen: weder Fund Journal, noch Distriktsplan. Und später, als man hin und wieder Sachverständige zuzog, da habe es sich immer so getroffen, daß man am ersten Tage nichts vorfand und erst am andern Morgen in der »unberührten« Lehmschicht der angegrabenen Stelle auf neue Objekte geriet. Skeptiker hielten sich an die Person des Dr. Morlet, der Illuminat ist und seine Nachforschungen in der Absicht unternimmt, das Vorhandensein einer frühen und hochentwickelten Kultur im Westen nachzuweisen. Einer sehr hochentwickelten – denn das Wichtigste ist: man hat in Glozel Tafeln gefunden, die mit rätselhaften Zeichen bedeckt sind. Um diese ist natürlich im Handumdrehen ein leidenschaftlicher Streit entbrannt, nicht nur in Fachzeitschriften, sondern sogar im »Mercure de France«. Der Entdecker selbst spricht von prähistorischem Alphabet und Zahlensystem, ein Dr. Jullian liest sie als lateinische Kursive und will in ihnen Zauberformeln aus dem 3. Jahrhundert n. Chr. sehen. Wieder andere jedoch wollen unter den übrigens krausen Zeichen die Letternfolge TSF1 mit aller Deutlichkeit herauserkannt haben ... Im »Mercure« spielt nun dieser Streit in Nachbarschaft einer Kontroverse über Atlantis sich ab, die an suspekten Hypothesen noch reicher ist. Es existiert in Paris eine Société des études atlantéennes, von offenbar sehr heterogener Zusammensetzung. Herr Paul Le Cour, eines ihrer Mitglieder, ist nun, an der genannten Stelle, kürzlich mit der Behauptung an die Öffentlichkeit getreten, die Rettung Europas hinge von der vertieften, innerlichen Einsicht in Atlantis als in das Ursprungsland der westlichen Kultur ab. Auch ist ihm nicht sowohl die prähistorische Methode, als die Inspiration der gegebene Weg, um über diesen Erdteil nähere Informationen zu beschaffen. In allen andern Fragen ist Herr Le Cour um so viel exakter und kann, wenn's darauf ankommt, einem gegnerischen Gelehrten dessen Mitarbeit an der »Humanité«2 öffentlich nachweisen...
So werden, wie man sieht, zum Heil und Ruhm Westeuropas gleichzeitig Raum- und Zeitenfernen durchforscht. Aber all das erinnert ein wenig an Chestertons Ausspruch: er wolle es ja gern glauben, daß Shakespeares Dramen von Bacon geschrieben sind. Nur solle man ihm erklären, warum denn die Vertreter dieser Meinung zugleich davon durchdrungen seien, daß man kein Fleisch essen dürfe.