Skandal im Théatre Français
Ein seltener Fall: zwei junge Autoren, Denys Amiel und André Obey erringen mit der fünften Aufführung einen Erfolg, wie ihn die Uraufführung ihnen nicht beschieden hatte. Sie haben ihren Theaterskandal im größten Format. Ihre Tragikomödie »La carcasse«, die von der Comédie Française herausgebracht wurde, hat das bescheidene aber unbestreitbare Interesse, die verzerrte Fratze des Mittelstandes nach jener Kette fürchterlicher Schlaganfälle von 1914 bis 1918 zu zeichnen. Die Generation, der an die Stelle Wilhelminischer Ideale (denn Wilhelms Stern stand über ganz Europa) der nackte Wille zum Weiter-Leben getreten war, der Trieb, dem eigenen Kadaver (der »carcasse«) in der Familie den Raum zurückzugewinnen, den er im Staate verloren hatte, ist längst ein fälliges Sujet des Dramas gewesen (und bleibt es noch weit mehr für den Roman). Der Held des Stückes ist ein pensionierter General, der freilich nur zum Dramahelden Zeug hat. Er fristet seine Tage durch die Kompläsancen, die ihm die Freunde seiner Frau erweisen und teilt sie zwischen der Beschäftigung mit seinem Pferd und seiner alten Uniform. Im übrigen läßt er die Dinge gehen, wie sie wollen, und gibt den Sohn der Schande und dem Elend preis. Diesen Charakter entwickeln drei Akte in einer kräftigen Studie, deren Octave Mirbeau sich nicht hätte zu schämen brauchen. Mit der Nachricht vom Selbstmord des Sohnes endet der erste Aufzug. Wenn der Vorhang über dem zweiten sich hebt, steht der General – höchst meisterhaft gespielt von Herrn von Férandy – allein auf der Bühne, dem Publikum abgewandt. In diesem Augenblick, der für den Coup der zweckmäßigste schien, erhebt ein Herr sich aus dem mittleren Parkett: »Veuillez, M. de Férandy, me permettre de vous poser une question. Je ne conçois guère ...« Mehr ist nicht verständlich. Alle Kronleuchter flammen auf. Parkett und Ränge tosen. Und während der Sprecher verschiedentlich nur ansetzt, hat schon das Publikum die Auseinandersetzung übernommen. Mit einem Schlage sind ein paar hundert politische Diskutierklubs entstanden. Meine Loge hat drei Parteien. Mein Nachbar billigt dieses Drama nicht, mißbilligt aber andererseits den Vorgang. Wie dem auch sei – die Ehre der französischen Familie müsse gewahrt werden. Aus solchen Stücken sauge sich der Fremde, der sie ansieht, Gift. Hinter mir stellt sich jemand als Conseiller municipal de Paris uns vor. Er ist mit seinen Damen erschienen. So sei das Leben. Und hohe Zeit, daß man es laut herausschreie. Von vier Beamten im Hôtel de ville seien immer drei korrupt bis auf die Knochen ... Ich persönlich versichere, der Fremde informiere über die französische Familie sich für gewöhnlich weniger hier als in den Folies Bergères. Indessen fällt von Zeit zu Zeit der Vorhang, dann geht er wieder hoch: man spielt ein Stückchen weiter. Es wird abwechselnd dunkel und hell. »Voilà où en est arrivé la première scène du monde!« ruft jemand aus den Rängen herunter. Endlich tritt der Hauptdarsteller selbst an die Rampe. Schweigen. Er ist, versichert er, aus alter Soldatenfamilie und hätte nie die Rolle übernommen, wenn hier im mindesten die Ehre der Armee geschmälert würde. Man applaudiert ihm aus Respekt vor seiner souveränen Leistung. Von nun an aber spielt er kaum noch, sondern sagt die Rolle her wie auf der Leseprobe. Man überstürzt den Schluß, um bei dem Nachspiel, einem Schmarren von Flers und Caillavet zu landen. Es hat der Comédie Française nichts genützt, daß man aus dem glorreichen Kriegshelden des ursprünglichen Textes einen General der Intendantur gemacht hat, der 1914 verabschiedet wurde. Der Skandal war nicht zu vermeiden. Denn, wenn man sich bisweilen für sein Geld gern unterrichten läßt, so zahlt doch keiner gern um sich erziehen zu lassen. Die Abonnenten der Maison de Molière so wenig wie andere Leute.