Nochmals: Die vielen Soldaten
Unter dem Stichwort »Infanteristen und Pioniere« setzt sich Hans Kafka in Nr. 15 der »L. W.« mit den beiden Militärstücken auseinander, die jetzt in Berlin zu sehen sind. Wir sind natürlich gar nicht mehr in der Lage, solche Stücke anders als aus politischen Voraussetzungen zu beurteilen. Kafka tut das besonders nachdrücklich und damit hat er recht. Ganz unrecht hat er aber mit den theaterpolitischen Forderungen, die er an diese Stücke heranträgt. Diese Forderungen nämlich sind nicht die des politischen Raisonnements. Wir werden gleich sehen, welcher Natur sie sind.
Das politische Raisonnement sagt uns: Diese Stücke sind in zumindest einer Hinsicht gegenüber allem, was wir von Militärstücken vorher hatten, ein politischer Fortschritt. Während das Vorkriegstheater (»Rosenmontag«, »Husarenfieber«, »Feldherrnhügel« usw.) in satirischer oder patriotischer Absicht nur militärische Chargen auf die Bühne brachte, haben wir hier zum ersten Male die Truppe im Rampenlicht. Wir haben die ersten Versuche vor uns, die kollektiven Kräfte zu zeigen, die in der uniformierten Masse erzeugt werden und mit denen die Auftraggeber der Heeresmacht rechnen. In dem Stück der Fleißer sind diese Kräfte des militärischen Kollektivs noch durchsetzt mit denen des landschaftlichen und volklichen; darum hat dessen verdienstvoller Regisseur recht getan, in die Vorkriegszeit, die Epoche der allgemeinen Wehrpflicht es zurückzuversetzen. In dieser zeitlichen und landschaftlichen Umfriedung ist es idyllisch und zart geblieben. In den »Rivalen« dagegen haben wir es bereits mit jenem hochaktuellen Berufsheer zu tun, das mehr und mehr, selbst in den äußeren Formen der allgemeinen Wehrpflicht, sich als die Heeresform der Zukunft erweisen wird. Damit treten Bestialität, Sadismus und Blutrausch schon um einige Grade unverstellter heraus. Aber leider nur für ein waches Publikum, mit dem man nirgends und am wenigsten in den bürgerlichen Theatern zu rechnen hat. Die sträfliche Fahrlässigkeit des Anderson-Zuckmayerschen Dramas ist, diesen ganzen militärischen Apparat losgelöst von seinem Garanten und Unternehmer: der Industrie, zu zeigen, und so der bürgerlichen Anschauung Vorschub zu leisten, es sei »der Krieg« ein »Naturereignis« mit allen seinen Schrecken und Wonnen. Wir aber haben es nicht mit abstrakten Kriegen zu tun, sondern mit bestimmten konkreten, die immer Phänomene des Wirtschaftslebens sind. Und im besonderen Falle mit dem letzten, der in der Epoche des Imperialismus der erste ist.
Soweit die Sprache des politischen Raisonnements. Demgegenüber ist Kafkas Sprache die des sentimentalen. Er macht sich zunächst den verhängnisvollen Ausgangspunkt der bürgerlichen Doktrin zu eigen: den abstrakten Allgemeinbegriff von Krieg und Militarismus. Ich werde an anderer Stelle in Kürze zeigen, wie mit diesem falschen Ansatz die ganze Frage aus dem gesicherten Terrain der politischen Diskussion ins Bodenlose der ethischen abgleitet. Bodenlos allerdings. Wenn wir heute zu der Einsicht gelangt sind, daß nicht einmal in der Individualerziehung es Ziel sein kann, die dunklen tierischen Elemente im Menschen abzutöten – erstens weil das immer mißglückt, zweitens weil sie an entscheidenden Wendepunkten des Daseins immer, nur im rechten Sinne, müssen eingesetzt werden – wenn wir mithin das Tugendideal für die Erziehung des Einzelnen verabschiedet haben, ist es dann nicht ein trostloser Dilettantismus, die Vernunft als Gouvernante über die Klassen zu setzen? (Wir sprechen von Klassen. Denn der Krieg zwischen Völkern ist heute keine primäre, sondern eine sekundäre Erscheinung.) Nicht zu erziehen, sondern zu herrschen ist die erste Aufgabe der Vernunft, und diese Herrschaft wird ihr Quellen der Gewalt als solche zu verschütten nicht nur nicht verbieten, sondern sie verpflichten, an Wendepunkten sie für ihre Zwecke aufzurufen.
Um nun auf Kafka zurückzukommen: Die Forderung, zu der er gelangt, ist logisch, und kann darum nicht richtiger sein als der Ausgangspunkt. Er will auf dem Theater den Einen sehen, der die Waffe fortwirft. Das defaitistische Heldenstück. Es ist die ethische Chimäre, »rein vom Krieg«, »die Hände rein vom Blute« sich zu halten. Und doch gibt es keine Reinheit in diesen Dingen außerhalb des zweckmäßigen Verfahrens der Reinigung, dem bewaffneten Aufstand. Ob das Theater dazu etwas tun kann, ist sehr die Frage. Seine Möglichkeiten aber liegen gewiß nicht in der Richtung, die Kafka ihm weist.