Gesinnungstüchtig
Gesinnungstüchtig, ein seit den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts lebhaft erschallendes politisches Schlagwort, das anfangs eine loyale Anerkennung bedeutet, bald aber ein ironischer oder polemischer Gemeinplatz wird, bis es sich schließlich bis zum parodistischen Scherzwort abschwächt. Gombert belegt es ZfdW. 2, 68 seit 1844 wiederholt im ersteren Sinne. Erinnert sei aber auch an Hoffmann von Fallersleben 5, 38, der in einem vom 20. Sept. 1846 datierten Gedicht einen General seinen Freiwilligen einschärfen läßt:
„Sie sind dann nicht Offiziere allein,
Sie müssen gesinnungstüchtig auch sein
…
Gesinnung muss haben ein Offizier,
Gesinnung, Gesinnung, Gesinnung wie Wir!“
Ausführlich kommen die Grenzb. 1848, 2. Sem. 3, 261 daraus zu sprechen, indem sie zugleich die Vorliebe der radikalen Partei für die polemische Verwendung dieses Schlagworts betonen: „Die Opposition selbst hatte statt „gesinnungsvoll“ ein anderes Stichwort, das schon durch seine Derbheit den demokratischen (?) Ursprung verriet: „gesinnungstüchtig". Namentlich Königsberg wurde gern die „gesinnungstüchtige“ Stadt genannt, weil in ihr die Dogmen der Partei am massenhaftesten aufgespeichert waren.“ Ebenda 1. Sem. 2, 451 die höhnische Anspielung „gesinnungstüchtige Titelträger und Geldsackträger“. Dazu die Definition von Jordan, Demiurgos 2, 215 (1854): „Ist der Beweis auch noch so flüchtig, Betone nur das Tagesstichwort richtig, so giltst du für gesinnungstüchtig.“ In den Demokratischen Studien (1860) S. 262 f. gibt es nicht nur „gesinnungstüchtige Publizisten“ und „gesinnungstüchtige, stenographische Berichte“ oder Adressen, sondern auch einen „gesinnungstüchtigen Purzelbaum“.
Eine Parallele bildet dazu das abgeleitete Substantiv Gesinnungstüchtigkeit, das z. B. in den Grenzb. 1845, 1. Sem. 2, 583 noch durchaus ernsthaft gebraucht wird: „Aber auch diese (die Presse!) hat sich mit der Regenerierung des Volksgeistes zu höherer Gesinnnungstüchtigkeit, politischer Einsicht und Konsequenz erhoben.“ Daneben kommt aber ziemlich rasch die scheltende Bedeutung des Wortes auf. Arnold bringt ironische Verwendung von konservativer Seite Zfdöster. Gymn. 52, 974 aus einem Pamphlet von Goltz (1847) bei. Im selben Jahre reden die Grenzb. 2. Sem. 4, 439 von „aufgeputzter Gesinnungstüchtigkeit“.
Gesinnungsvoll, das schon bei Gans, Rückbl. (1836) S. 2 steht wurde erst durch König Friedrich Wilhelms IV. Wort zu dem Dichter Herwegh vom 19. Nov. 1842: „Ich liebe eine gesinnungsvolle Opposition“ zum Schlagwort wirklich beflügelt (Büchm. S. 627). Überhaupt ist das Simplex Gesinnung schon seit den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts als Schlagwort im Schwange. Vgl. Heine 7, 333 (1838): „Das Beste in der ganzen Abhandlung (Gustav Pfizers!) ist der wohlbekannte Kniff, womit man verstümmelte Sätze aus den heterogensten Schriften eines Autors zusammenstellt, um demselben jede beliebige Gesinnung oder Gesinnungslosigkeit auszubürden.“ Gesinnung und Gesinnungslosigkeit werden in ähnlicher Weise auch in Helds Censuriana (1844) zusammengestellt: „In einer Zeit, wo die Gesinnung als die höchste aller Tugenden geachtet wird, soll man mich lieber einen Mörder als gesinnungslos nennen, und wer mich fälschlich in den Geruch der Gesinnnungslosigkeit bringt, ist ein Verleumder.“ Von anderen Nachweisen verdient noch die eigenartige Anwendung der Schlagworte „gesinnungslos“ und „Gesinnungslosigkeit“ angemerkt zu werden, die der radikale Bibelkritiker Bruno Bauer davon machte, der nach der Angabe der Grenzboten 1849, 1. Sem. 2, 324 ihnen den Sinn von unparteiisch oder tendenziös unterlegte. Daher wird ebenda 1843, 629 der Vorwurf der Gesinnungslosigkeit mit dem Hinweis zurückgewiesen: „Das letzte Stichwort wird am lautesten von denen gebraucht, welche den Mangel an Gesinnung früher Unparteilichkeit und objektive Ruhe zu nennen beliebten.“
Besonders lehrreich aber sind die ausführlichen Angaben Walesrodes in den Demokr. Studien, der mit unzweideutigem Ingrimm gegen diese ganze Schlagwortsippe zu Felde zieht S. 257 ff. (1860): „Unser „ewig Weh und Ach!“ es ist nicht wie das der Weiber aus einem Punkte zu kurieren, aber es ist in ein einziges Wort zusammen zu fassen: „Gesinnung“ heißt es. Wer sollte es diesem tagtäglich in unserem politischen Haushaltungsgespräche vielfach gebrauchten Wort zutrauen, dass es die Marterwerkzeuge unserer politischen Passionsgeschichte in sich schließe?“ Dann wird behauptet, kein Volk von entschiedenem politischen Charakter habe einen entsprechenden Ausdruck für unsere „Gesinnung“, und doch werde damit in Deutschland Staat, Politik und Geschichte gemacht! S. 459: „"Wohlgesinnt", „gutgesinnt", „gesinnungstüchtig“ — da habt Ihr den ganzen Komplex patriotischer Bürgertugend. Von unten, aus der Maulwnrfsperspektive gesehen, macht eine gute Gesinnung dich zum Aristides, von oben aus der Vogelperspektive zum Catilina … Prätendieren doch überhaupt unsere Staatsretter nichts anderes als mit allen Mitteln der Macht und der Willkür den gutgesinnten Staat vor dem schlechtgesinnten zu retten, oder — anschaulicher versinnbildlicht — den ganzen Staat in eine gouvernementale Gesinnungsschablone hineinzuprügeln.“ Vgl. auch S. 468 „Gesinnungspfuscher“, S. 471 „Gesinnungs-Lyriker“ und S. 487 „Gesinnungsdusel“.