Völkerfrühling
Völkerfrühling ist ein schwärmerisches Programmwort, das aus Börnes Feder stammt, welcher in der „Ankündigung der Wage“ (1818) zukunstsfreudig schrieb: „Wie weit entfernt von der heiligen Zone des Wissens ist noch jetzt die europäische Menschheit und wie lau und sanft ist all ihr Wollen und Tun. Darum sei man unbesorgt, froh des heranbrechenden Völkerfrühlings, und fürchte nicht die Bewegung im Freien.“
Aber erst im Jahre 1830 weckte das Neuwort den nötigen Widerhall. Die Julirevolution brachte die Hoffnung aus politischen Frühlingsglauben, wenn auch Börne selbst mißmutig am 26. Dez. 1830 gesteht: „In der Politik ist weder Sommer noch Winter, es ist der erbärmlichste Revolutions-Frühling, der mir je vorgekommen.“ Vgl. Gombert, Festg. und Büchmann S. 294 f. Geradezu skeptisch versichert Alexis, Wiener Bilder (1833) S. 446: „An einen Völkerfrühling glaube ich nicht, und glaubte nie daran, insofern sie darunter einen plötzlich aufgefundenen, allgemein gültigen neuen Weg des Heils für die Völker verstehen.“
Begeistert schaut aber namentlich Mundt, Moderne Lebenswirren (1834) S. 44 das Nahen eines beglückenden Völkermais: „Herr Gott und Vater, selbst jeder Maikäfer hat seine Zukunft, und wenn er brummend wieder in die Erde kriecht, denkt er doch schon innerlich vergnügt an den nächsten Mai. Und wollen die Völker an dem neuen Mai ihrer Zukunft verzagen? … Die in den April geschickten Hambacher verklammten bei ihrem eigenen Völkerfrühling, den sie den gutmütigen Deutschen hatten aufschwatzen wollen, und das ganze Deutsche Reich, das hier hergestellt werden sollte, wäre mit sammt seiner Einheit an diesem kaltem Lenz wieder erfroren! Nein, nein, Du Völkermai, Du bist noch nicht geboren! Aber wir lauschen still auf Dein Keimen und Wachsen, wir fühlen und träumen Dein Blühen und Werden, und sind Deiner gewiß in uns selbst!“ Derselbe Prophet spricht auch in seiner „Madonna“ (1835) S. 408 von einem Vorfrühling der neuen Völkerkultur.
Von nun an verklingt das wirkungsvolle Schlagwort so leicht nicht wieder. Enthusiasmus und Polemik führen es weiter. Gaudy 1, 101 spöttelt wahrscheinlich im Jahre 1837 in einem Gedicht „An die Jungen“:
„Ihr träumtet, völkerlenzliche Trompeter,
Den grauen Zwing mit Phrasen umzublasen —
Ihr irrt Euch, Kinder“ …
Büchmann zitiert dann eine Anspielung bei K. Beck (1838). Von einem idealen „Völkerfrühlingsapostel“, einem jugendlichen Börne, einem Byron in Prosa, reden die Grenzb. 1846, 1. Sem. 1, 145. Dann erst erklingt Heines Wort von des Völkerfrühlings kollosalen Maikäfern im „Atta Troll“ (1847), übrigens mit deutlichem Anklang an die von mir belegte Stelle Mundts.
Kein Wunder, dass daraus im Revolutionsjahr 1848 das Schlagwort mit neuem Schwung ertönte. Herm. Kurz 1, 34 bemächtigt sich seiner sofort in einem im März 1848 gedichteten herrlichen Vaterlandslied:
„Ja, und säuselnd bricht der große
Schöne Völkerfrühling an.“
Von anderen Zeugnissen abgesehen.
Aber auch später wird das Wort immer wieder neu aufgefrischt. Am packendsten zunächst durch Joseph Bölk in seiner berühmten Rede vom 18. Mai 1868, die er im Zollparlament unter größtem Beifall hielt. Und daran anknüpfend mahnte Bismarck in seiner Reichstagsrede vom 2. März 1885 mit patriotischem Ernst eindringlich: „Es liegt eine eigentümliche prophetische Voraussicht in unserem alten nationalen Mythus, dass sich, so oft es den Deutschen gut geht, wenn ein neuer Völkerfrühling wieder, wie der verstorbene Kollege Bölk sich ausdrückte, anbricht, dass dann auch stets der Loki nicht fehlt, der seinen Hödur findet, einen blöden, dämlichen Menschen, den er mit Geschick veranlaßt, den deutschen Völkerfrühling zu erschlagen, respektive niederzustimmen.“ Als der Abg. Rintelen aber am 13. März diese mythologische Anspielung irrtümlich als die deutsche Kolonialbegeisterung deutete und bekämpfte, gab Bismarck selbst einen anschaulichen Kommentar unter jubelnder Zustimmung der Rechten und der Tribünen: „Ich habe unter dem Begriff „Völkerfrühling“ mehr verstanden als die Kolonialpolitik, ich habe meine Auffassung — ich will nicht sagen: so niedrig — aber so kurz in Zeit und Raum nicht gegriffen. Ich habe unter dem Frühling, der uns Deutschen geblüht hat, die ganze Zeit verstanden, in der sich — ich kann wohl sagen — Gottes Segen über Deutschlands Politik seit 1866 ausgeschüttet hat, … Das schwebte mir als „Völkerfrühling“ vor; dass wir daraus die alten deutschen Grenzländer wiedergewannen, die nationale Einheit des Reiches begründeten, einen deutschen Reichstag um uns versammelt sahen, den deutschen Kaiser wieder erstehen sahen, das alles schwebte mir als „Völkerfrühling“ vor — nicht die heutige Kolonialpolitik … Dieser Völkerfrühling hielt nur wenig Jahre nach dem großen Sieg vor. Ich weiß nicht, ob der Milliardensegen schon erstickend auf ihn gewirkt hat. Aber dann kam, was ich unter dem Begriff „Loki“ verstand: der alte deutsche Erbfeind, der Parteihader.“ Als Buchtitel verwendet das Schlagwort z. B. A. Lindner (1881).
Vorausgegangen war schon die Wendung „Frühling der Völker“, die Büchmann bei Hölderlin (1797) nachweist. Vgl. auch die Parallele „Geisterfrühling“ in einem Gedichte Arndts 4, 217 aus dem Jahre 1819.