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Auch Begriffe Hypothesen

Dass jedes Wort der menschlichen Sprache nur eine vorläufige Hypothese enthalte, diese dämmernde Wahrheit wird uns vielleicht faßlicher erscheinen, wenn wir bedenken, dass jedes Wort einen engeren oder weiteren Artbegriff darstellt und dass durch Jahrtausende der Streit darüber nicht aufhörte, was diese Artbegriffe eigentlich seien. Für Ideen der Wirklichkeit hat Platon die Worte oder Artbegriffe ausgegeben, und die ganze christliche Zeit des Mittelalters führte den verzweifelten Kampf über die Frage, ob diese Ideen oder V» orte den Erscheinungen der Wirklichkeit irgendwo vorausgingen oder im Menschengehirn erst folgten. Der Streit also des mittelalterlichen Wortrealismus und Nominalismus ist wieder nur der Gegensatz des Wohin und Woher. Wir haben die Hypothese des Realismus der Ideen aufgegeben und leben unter dem beherrschenden Gedanken des Nominalismus. Wird der Realismus der Ideen niemals wiederkehren?

Es liegt mir himmelfern, die Ideen des Platon oder die Teleologie des Aristoteles unserem Nominalismus, unserer Ursächlichkeit als gleichwertig gegenüberstellen zu wollen; das wäre nicht mehr Zweifel, das wäre ein tatsächlicher Rückschritt, als ob die Menschheit auf den Gebrauch des Feuers verzichten wollte, weil sie einmal ohne Feuer lebte. Aber auch die herrschende Überzeugung unserer Zeit, auch Nominalismus und Ursächlichkeit erscheinen mir doch nur als vorläufige Hypothesen, und bei der Wendung des spiralförmigen Weges wird die Hypothese des Realismus der Ideen wieder einmal auf einer höheren Stufe auftauchen.

Was ich bei diesen Worten denke, das kann ich nur durch ein phantastisches Bild ausdrücken. Unsere Worte oder Artbegriffe, welche Platon für die Ideen der Erscheinungen erklärt hat, scheinen uns so zuverlässig zu sein, dass mancher den Kopf schütteln mag, wenn er auch so handgreifliche Begriffe wie Erde, Wasser, Eiche, Mensch für Hypothesen halten soll. Wie aber, wrenn wir uns einen Geist vorstellten, für den Millionen Jahre der Entwicklung wären wie ein Tag? Wie, wenn vor den Augen dieses Geistes die Urstoffe der Welt in wenigen Stunden seiner Zeitrechnung gemächlich zu der Erdkugel sich ballten, glühten, erstarrten, lebendig würden, erfrören, zurückstürzten in die Sonne und sich in ihrer Glut neuerdings auflösten in die Urstoffe der Welt? Ist dann der Begriff Erde, der Name der Form eines flüchtigen Viertelstündchens, auch noch mehr als ein luftiges Wort? Ist dann der Name Erde noch mehr als die Hypothese eines Übergangszustandes der Urstoffe? Ist dann der Name Erde noch mehr' als die Hypothese "sieden", die wir von einer Übergangsform des Wassers gebrauchen? Und ist der Begriff Wasser, das einst auf Erden nicht war und einst wieder nicht mehr sein wird, nicht ebenso eine Hypothese zur Beruhigung des beschaulichen Geistes, der die Erde entstehen und vergehen sieht, wie das Kind die Farben auf seiner Seifenblase, die schönen Farben, die doch gewiß Hypothesen sind? Und ist das Wort Eiche, die während des kurzen Viertelstündchens des Erdendaseins einmal aus anderen Formen hervorging, wie eine Eisblume auf der Fensterscheibe einen neuen Kristall ansetzt, ist die Eiche mehr als eine Hypothese? Und der Mensch? Was sich auf dieser Erdkruste kribbelnd und krabbelnd formte und wandelte, bis es einmal flüchtig so wurde, wie der beschauliche Geist seit einigen Minuten Milliarden von Menschen sieht, ist es in seiner dinglichen Eigenschaft mehr als eine Hypothese? Als eine Fiktion? Eine Erscheinung hat man alle diese Dinge längst genannt, dritthalb Jahrtausende vor Kant.

Nur freilich, dass diese Hypothese, die wir Mensch nennen, ein drolliges Organ unter seinem Schädel besitzt, das in den letzten Stunden des beschaulichen Weltengeistes dazu gelangt ist, selbst Hypothesen zu spinnen, in denen es den Weltengeist wieder zu erkennen glaubt. So spiegelt sich das Kind in der Seifenblase, die es selbst gemacht hat, und niemand kann sagen, ob es mehr weiß von der Wirklichkeitswelt als die Farben, an denen es sich freut.