Zum Hauptinhalt springen

Wahrscheinlichkeit

Genau betrachtet, ist jede Induktion unvollständig und darum jeder Begriff (oder Gesetz oder Wort) ohne Ausnahme eine Hypothese. In der Urzeit war der Jahreswechsel eine kühne Hypothese, ein nur vermutetes Gesetz, eine unvollständige Induktion; heute, nachdem dieses Gesetz des Jahreswechsels vom ganzen Menschengeschlechte ein paarmal, ich meine unzähligemal nachgeprüft worden ist, erscheint es uns subjektiv 475 als eine vollständige Induktion, als eine Gewißheit, als eine Abstraktion. Wir könnten auch sagen, dass die Menschen Gesetze, die einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit besitzen, in den Schatz ihrer Abstraktionen oder Begriffe aufnehmen und dass sie die Gesetze mit einem mittleren Grad der Wahrscheinlichkeit weiterhin Gesetze nennen und auf Induktion zurückführen. Die Beurteilung des Grades der Wahrscheinlichkeit geht durchaus nicht so mechanisch vor sich, wie uns die Mathematiker und Statistiker glauben machen wollen. Die Weltanschauung eines Menschen oder einer Zeit entscheidet darüber, ob etwas für mehr oder weniger wahrscheinlich gehalten wird. Die Weltanschauung aber hängt vom Interesse ab, ist subjektiv. Es ist kein großer Unterschied zwischen dem Walten der unbewußten Wahrscheinlichkeitsrechnung in der Sprachbildung oder der Geschichte der Wissenschaft und der unbewußten Wahrscheinlichkeitsrechnung des Arztes am Krankenbett. Dieser besitzt (allerdings erst seit wenigen Jahren) statistische Tabellen über den Ausgang der Krankheiten, über die Folgen bestimmter Medikamente, über die Bedeutung des Alters usw. Trotzdem wird er sich im Augenblicke der Gefahr, genau so wie sein Kollege vor 50 Jahren, vor der Aufstellung der Tabellen, von seinem subjektiven Gefühle leiten lassen, das natürlich durch Erfahrungen, also Induktionen, gelenkt wird. Die Geistestätigkeit dieses Arztes hat viel Ähnlichkeit mit der künstlerischen Geistestätigkeit des Erfinders oder Entdeckers. Ein subjektiv beeinfmßter Entschluß läßt ihn Art und Dosis des Heilmittels wählen. Ob nachher der einzelne Kranke stirbt oder nicht — ja nicht einmal das kann der Arzt als sichere Wirkung seines Entschlusses erkennen. Es fordert zum Nachdenken heraus, dass ebenso die Menschheit im großen und ganzen weiter lebt, unbekümmert um das Geschwätz des Einzelnen, dass sogenannte wissenschaftliche Wahrheiten, neue Gesetze und neue Worte nach subjektivem Ermessen des jeweiligen Zeitgeistes geschaffen und vernichtet werden. Die Sprache begleitet die Menschheit von Geschlecht zu Geschlecht, wie die Ärzte die sterblichen Menschen von Tod zu Tod begleiten, ohne etwas zu wissen, ohne auch nur sagen zu können, ob jemals seit dem Eingreifen des ersten Arztes auch nur in einem einzigen Falle irgend ein auf das Eingreifen folgender Zustand des Kranken nur post hoc oder propter hoc eintrat. Welch ein Scharlatan ist die Sprache! (Vgl. E. Schweninger: "Ärztlicher Bericht 1902" S. 9.)