Induktion und Abstraktion
Wir sind auf unserem Wege dahin gelangt, keinen Unterschied zu sehen zwischen der Induktion und dem, was die Schule immer noch Abstraktion nennt. Wir sind zu der Einsicht gelangt, dass alle menschliche Erkenntnis in Worten oder Begriffen besteht und dass in ihnen alle diejenigen Erkenntnisformen enthalten sind, die wir je nach dem Grade unserer Bescheidenheit Erfahrungen oder Gesetze nennen. Es bleibt uns noch übrig, uns mit der deutschen Wissenschaft über den Begriff Abstraktion auseinanderzusetzen. Man gilt ja nicht für gründlich, wenn man vorwärts geht, ohne sich durch Rückblicke aufhalten zu lassen. Man gilt für unhöflich, wenn man seinen Gegner im Duell nur erschlägt und ihm nicht auch noch die Hand reicht.
Die Geistestätigkeit, welche man in England und Frankreich Philosophie zu nennen pflegt, hat in diesen Ländern der Induktion große Anerkennung verschafft. Die führenden Engländer und Franzosen aber haben keine Ahnung davon, wie oberflächlich sie (die um Psychologie und dadurch um Sprachkritik so viel größere Verdienste haben als die führenden Deutschen) vom erkenntnistheoretischen Standpunkte aus erscheinen; sie wissen nicht, dass diese Induktion nicht zur Wissenschaft führe, sondern nur zum Sprachgebrauch und dass dieser Sprachgebrauch nur eine Erwartung zustande bringt, nicht eine logisch berechtigte Gewißheit. Die Schattenjagd, welche man in Deutschland Philosophie nennt, beruht auf einer viel tieferen Sehnsucht. Wenn wir wirklich eine Wissenschaft, eine Erkenntnis besäßen (was ja auch die Engländer und Franzosen behaupten), so hätten unsere Erkenntnistheoretiker ganz recht damit, dass sie neben der Induktion eine zweite Erkenntnisquelle annehmen, die Abstraktion. Ein kluger Schüler von Kant und Fries, E. F. Apelt, hat diese Lehre sorgsamer als ein anderer ausgebaut. Er sieht scharf, wenn er (in seiner "Theorie der Induktion") behauptet: die Beweisart durch Induktion besitze keine Selbständigkeit, sondern sei von leitenden Maximen abhängig; die Induktion sei nicht der Weg zu den notwendigen Wahrheiten, sondern der Weg zu der Verbindung notwendiger Wahrheiten mit den zufälligen Wahrheiten; sie sei das Band, welches das Mögliche und Notwendige mit dem Wirklichen verknüpfe.
Glaubt man an notwendige Wahrheiten, an die Erkenntnis von Naturgesetzen, so sind diese Sätze richtig, so gibt es in unserem Gehirn neben der Induktion noch eine besondere Abstraktion. Dann beweist die Induktion die Gültigkeit eines Gesetzes aus vielen Fällen, dann destilliert die Abstraktion die Gültigkeit eines Gesetzes aus einem einzigen Beispiele.
Solange wir auf den Höhen der Wissenschaft bleiben, solange steht nichts dem Gebrauch dieser beiden Begriffe entgegen. Als Newton die große Eingebung hatte, die Keplerschen Gesetze und das Fallgesetz Galileis als ein und dieselbe Erscheinung zu erkennen und sie Gravitation zu nennen, da glaubte er gewiß ein Ergebnis der genialsten Induktion mit einem Ergebnis der genialsten Abstraktion zu verbinden.
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