Beweise sind Hypothesen
Wir haben also bisher gesehen, dass der Beweis nichts Anderes ist als eine Schlußfolgerung mit einer besonders gerichteten Aufmerksamkeit; und wir haben weiter bemerkt, dass namentlich die mustergültigen Beweise der Geometrie darum so unantastbare Schlüsse sind, weil sie nicht sowohl Begriffe oder Worte, sondern geradezu die Anschauungen auseinanderlegen. Wenn wir nun an uns selber beobachten, dass uns diese Auseinanderlegungen von Anschauungen vollkommen befriedigen, weshalb wir sie eben auch musterhafte Beweise nennen, dass dagegen alle Beweise der begrifflichen Wissenschaften irgend einen unbefriedigenden Punkt haben, so werden wir schon sprachlich auf die Vermutung geführt werden, dass alle begrifflichen Beweise unvollkommene Beweise sind, vorläufige Erklärungen, das heißt Hypothesen. Unsere Lehre vom Schluß aber wird durch diesen Umstand einerseits bestätigt, während anderseits aus ihm hervorgeht, dass auch der Begriff Hypothese für einen schärferen Blick nicht viel mehr ist als das Zugeständnis: wir arbeiten immer mit Fiktionen, einerlei ob wir naturwissenschaftliche Gesetze aufstellen oder ob wir nur naturwissenschaftliche Begriffe bilden.
Wir gehen noch einmal davon aus, dass ein Beweis eine Schlußfolgerung sei mit besonderer Aufmerksamkeit darauf, ob der Zusammenhang mit der Wirklichkeit nicht verloren gegangen ist. Bei dem Vorgang der sogenannten Schlußfolgerung besinnen wir uns auf ein näheres Merkmal eines Begriffs, das wir dann unter dem Namen einer Prämisse zu einem Urteil breittreten. "Gefrorener Wasserdunst ist Schnee; Kälte erzeugt gefrorenen Wasserdunst; also: ist die Kälte die Ursache des Schnees." Für uns ist es ja geläufig geworden, dass dieser Schluß oder dieser Beweis zu unserem Begriffe Schnee nichts Neues hinzuträgt. Oberflächlich betrachtet sind "die Worte: Kälte, Wasser, Schnee auch vollkommen sichere und klare Vorstellungen. Achten wir aber darauf, dass insbesondere die Kälte etwas ist, wovon wir durchaus kein positives Merkmal angeben können, so wird die Prämisse "Kälte bringe das Wasser zum Gefrieren" sofort zu einer tautologischen Hypothese.
Worin besteht das Wesen der Hypothese? Doch nur darin, dass wir eine Prämisse vorläufig als richtig annehmen und sie so lange nicht verwerfen, als formale Schlüsse aus ihr unseren Wahrnehmungen der Wirklichkeitswelt nicht widersprechen. Nun aber wissen wir, dass auch die angeblich sicheren Prämissen nur auseinandergelegte Begriffe sind. Bei unserem Zweifel an der Festigkeit unserer Worte oder Begriffe werden wir nun gleich vermuten, dass sich kein einziger Begriff zu einer zuverlässigen Prämisse auseinanderlegen lasse, dass in allen begrifflichen Wissenschaften, also in der ganzen weiten Welt unseres Denkens, alle Prämissen nur vorläufigen Wert haben, dass demnach alle aus ihnen gezogenen Beweise doch nur Hypothesen sein werden. Jedes Wort unserer Sprache enthält in seinen Merkmalen die Schlüsse, die aus ihm gezogen werden können; jedes Wort enthält Beweise, Gesetze, jedes Wort enthält Hypothesen.
Für uns ist der Begriff der Kausalität oder der Verkettung von Ursache und Wirkung schon von früher her eine Hypothese gewesen; jetzt müssen wir erkennen, dass jedes neue Wort, in welchem man die Ursache einer Seihe von Erscheinungen auszusprechen sucht, nur eine Hypothese in zweiter Potenz sein kann. So ist es eine rein menschliche, eine vorläufige Annahme, dass das Gefrieren des Wassers die Wirkung von etwas sei. Unter dieser vorläufigen Annahme ist dann wieder die Aufstellung des Begriffs Kälte eine neue Hypothese, ja eigentlich schon fast eine überwundene Hypothese, da in der positiven Naturwissenschaft ehrlicherweise niemals von etwas Anderem die Rede sein dürfte als von Wärme. Wir müßten uns so ausdrücken: bei minus 273° erreichen wir den Nullpunkt der Wärme. Ebenso ist es eine Hypothese, den Blitz als eine Wirkung aufzufassen. Und unter dieser Hypothese wieder ist die Hypothese Elektrizität nur ein Wort, dessen Bedeutung gerade in unserer Zeit der Nutzbarmachung ihrer Erscheinungen zu zerflattern beginnt. So betrachtet, gewinnt der Unterschied zwischen der verachteten alten Naturwissenschaft und der neuen einen seltsamen resignierten Ausdruck. Erklären wollte die Erscheinungen Aristoteles ebenso gut wie Newton. Die Überzeugung, dass die Erscheinungen eine Erklärung zulassen, eine Ursache haben, ist ja eben die uralte Hypothese des Menschengeistes. Nur dass die alte Naturwissenschaft teleologisch war, das heißt an Zweckursachen glaubte, das heißt die Ursache der Wirkung in die Zukunft verlegte; und dass die neue Naturwissenschaft logisch geworden ist, das heißt an reale Ursachen glaubt, das heißt die Ursache in die Vergangenheit verlegt. Diese neuere Hypothese hat von unseren Köpfen so unwiderstehlich Besitz genommen, dass wir die alte Hypothese der Teleologie eigentlich gar nicht mehr verständlich aussprechen können. Wir nennen die neue Hypothese geradezu das Gesetz der Ursächlichkeit und vergessen darüber ganz, dass der Begriff der Zweckursache (welcher dem der Ursächlichkeit widerspricht) doch durch Jahrtausende bestanden hat und in der Volkssprache der optimistisch Gläubigen noch heute besteht. Der Unterschied also zwischen der alten und der neuen Weltanschauung oder Welterklärung besteht, wie wir schon aus dem Worte Weltanschauung hätten vermuten können, nur in einer Stimmung, in einem Behagen unseres Geistes. Wir haben die Hypothese der Zweckursachen aufgegeben, weil unser Forschungstrieb bei diesen Zwecken, Absichten unbekannter Wesen, keinen Ruhepunkt fand; wir halten uns jetzt an die Realursachen, weil wir für ihre unbekannten Träger Worte haben, weil uns diese Worte bekannt scheinen und weil wir uns darum bei ihnen beruhigen. Die beiden uralten Schicksalsfragen des auf der Erde wandelnden Menschen lauten heute wie einst: Woher? Wohin? Das Christentum ruhte von der ewig unfruchtbaren Marter des Woher eine Weile beim Wohin aus. Wir sind der ewig unfruchtbaren Marter des Wohin müde und glauben beim Woher auszuruhen. Wir sind wie Wanderer, die einen unendlichen Bergweg emporschreiten, lange nach dem Gipfel gespäht haben und dann wieder einmal zur Abwechslung zurückblicken. Das Ausruhen dieses Blicks, dieses Augenblicks nennen wir unser Wissen.
Ich bin aber selbstverständlich weit davon entfernt, um dieses Zweifels willen alle möglichen und unmöglichen Hypothesen der Welterklärung für gleichwertig zu halten. Ich bin weit davon entfernt zu glauben, dass unsere Naturwissenschaft z. B. ohne Selbstvernichtung zur alten Teleologie zurückkehren könnte oder dass auch nur einem modernen Gelehrten mit Recht Duldung gepredigt werden könnte gegen die Meinungen der Vorfahren. Die Hypothese von dem Stillstand der Erde ist endgültig abgetan durch die Hypothese unseres Sonnensystems. Die Hypothese von der Strahlung des Lichts ist endgültig abgetan durch die Wellenhypothese. Die Teleologie ist endgültig abgetan durch die Ursächlichkeit. Insbesondere ist die bewundernswerte Hypothese Newtons, die von der Gravitation, eine beruhigende Zusammenfassung unzähliger rätselhafter Erscheinungen. In dem Selbstgefühl seiner ungeheuren Geistestat durfte Newton wohl die von ihm gestürzten Theorien als falsche Hypothesen verachten und stolz von sich selber sagen, er erfinde keine Hypothesen. Er brauchte, wenn er sich mit der Geschichte der Wissenschaft verglich, nicht bescheiden zu sein. Nur der Blick auf den Grad der menschlichen Erkenntnisfähigkeit führt zu der bescheidenen Klage, dass auch die Gravitation nur eine Hypothese oder eine Fiktion (hypotheses non fingo, Newton sah also auch keinen Gegensatz zwischen beiden Begriffen) sein könne, ein vorläufiges Wort. Nur die Einsicht in das Wesen der menschlichen Sprache kann zu dieser letzten Resignation führen. Und in Verbindung damit ahnen wir, dass der uralte Gegensatz zwischen dem Vorwärts- und Rückwärtsblicken, zwischen den Wohinfragern und den Woherfragern auf der Schwäche des menschlichen Denkwerkzeuges beruhe, weil wir ja doch nicht einmal wissen, was der Begriff "Richtung" besage, den wir vielleicht noch einmal als den gemeinsamen Oberbegriff von Woher und Wohin, von Kausalität und einiger Teleologie werden ansehen müssen. (Vgl. mein "Wörterbuch der Philosophie" Artikel "Richtung".)