Hypothesen und Worte
Alle unsere Erkenntnis wird zum Zwecke der Mitteilung und Vererbung niedergelegt in Sätzen oder Urteilen. Wir aber wissen bereits, dass alle Urteile, seien sie nun der Ausdruck von wiederholten Beobachtungen, seien sie unmittelbare oder endlich mittelbare Schlüsse, schließlich immer schon in den Begriffen enthalten waren, welche die Subjektworte sind. In der vorgrammatischen Sprache der Menschen mag in einem solchen Worte bereits das Prädikat, der unmittelbare Schluß und der Syllogismus mit enthalten gewesen sein, so wie im Keime der Eichel der ganze Eichbaum steckt.
In bezug auf unsere Sinnesempfindungen ist deren Ursache, die wir die Wirklichkeit nennen, eine Hypothese. In bezug auf diejenigen Sätze, zu welchen wir durch logische Schlüsse gelangt zu sein uns einbilden, nennen wir den Glauben an eine ihnen entsprechende Wirklichkeit ihre materielle Wahrheit. Und das schlechte Gewissen der Logik, welche doch durch ihre mustergültigen Schlüsse vor jeder Unwahrheit bewahrt bleiben müßte, äußert sich darin, dass trotz aller logischen Flausen nach der materiellen Wahrheit des Schlußsatzes besonders gefragt wird und die Schlußfolgerung, insofern sie ausnahmsweise auf ihre Übereinstimmung mit der Wirklichkeit hin geprüft wird, Beweis genannt wird. Es scheint also ein Beweis nichts Anderes zu sein als ein Schluß, bei dem mißtrauisch auf den Weg zurückgeblickt wird.
Wer meinem kritischen Überblick über die Lehre der Logik gefolgt ist, der wird mir zugestehen müssen, dass ebenso wie der vorwärtsblickende Schluß auch der rückwärtsblickende Beweis jedesmal auf einer Beobachtung, also auf einer Reihe von Sinneseindrücken allein beruhen müsse. Das Wort, welches die Sinneseindrücke verbindet, umfaßt dann immer unsere ganze Erkenntnis. Haben erst unsere Sinne die Empfindungen vereinigt, welche wir von Schneeflocken erhalten, so wird in ziemlich früher Zeit der Menschengeschichte schon die "Kälte" als Ursache der Schneebildung erkannt worden sein. In ziemlich früher Zeit wird man unbewußt den indirekten Beweis geführt haben, dass die Kälte Schnee verursache und nicht etwa die Jahreszeit oder die Nacht oder der Wind oder die Luft. Auf solcher Stufe der Erkenntnis ist es für jeden klar, dass in der gleichzeitigen Kälteempfindung, also in einem notwendigen Begriffsmerkmal des Schnees, schon der Beweis für seine Ursache enthalten war. Später wurde wahrscheinlich die Kristallform der kleinen Schneeteile beobachtet, und da auch andere, in höheren Hitzegraden geschmolzene Körper bei geringerer Temperatur zu harten Kristallen zusammenschössen, so entstand durch die induktive Begriffsbildung allmählich das zusammenfassende Wort Kristall; als Ursache von Kristall konnte dann allgemein die Kälte angenommen und bewiesen werden, wobei der direkte oder indirekte Beweis immer nur ein Zurückblicken auf die Beobachtung war. Heute ist die "Kälte", deren Erzeugung sogar durch "Wärme" seit Faraday in der pfiffigsten Weise erfunden worden ist, die "Kraft" großer und gewinnbringender Industriezweige; aber "Kälte" ist dennoch bekannter als z.B. die Elektrizität; die erklärt man wenigstens durch eine Hypothese, die Kälte nur durch eine Negation der Wärme, die man durch eine Hypothese zu begreifen sucht.
Ebenso mußte seit Menschengedenken die Erscheinung des Blitzes beobachtet worden sein. Seine besondere Ursache erriet man nicht; man schob sie also der weitesten aller Hypothesen, dem Gotte, in seinen Wirkungskreis hinein. Als dann im 18. Jahrhundert die elektrischen Erscheinungen genauer beobachtet wurden und zwischen ihnen und dem Blitze manche Ähnlichkeit auffiel, versuchte man es, mit dem Worte Elektrizitätserscheinungen den Blitz mit zu umfassen, und nannte diese Beobachtung auch sofort einen Beweis. Wir werden gleich sehen, dass alle solche bewiesenen Erklärungen doch nur Hypothesen sind, und werden fragen, was das in unserem Sinne bedeute.