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Hypothesen

Alle Naturgesetze, auch die größten Entdeckungen, sind immer nur Hypothesen. Die Sprache ist ganz unfähig, den wirklichen Vorgang zu fassen. Seitdem vollends das Wesen der Hypothese besser erkannt worden ist, glauben die Forscher nicht einmal selbst an die Richtigkeit ihrer neuen Erklärungen. Es ist ihnen genug, wenn sie in einer sogenannten Hypothese eine vorläufige Definition gefunden haben, eine vorläufige Begriffsbestimmung, ein vorläufiges Wort, das heutzutage oft gleichzeitig ein Registerwort abgibt für die Kaufmannsware des Artikels. Durch die vorläufige Definition hoffen sie dann später zu der definitiven Definition zu gelangen.

Campe hat in seinem Verdeutschungswörterbuch für Hypothese das Wort "Wagesatz" vorgeschlagen, was schlechten Geschmack, aber gutes Denken verrät. (J.Paul sagt wirklich einmal "Wagsatz".)

Deutlicher als früher selbst ein Kant hat Vaihinger in seiner "Philosophie des Als ob" es ausgesprochen, dass alle unsere Gesetze, Definitionen und Weltanschauungen (ich sage: alle unsere Begriffe) auf ein Alsob hinauslaufen; nur dass Vaihinger noch zwischen Hypothesen und Fiktionen so scharf unterschied, als ob dieser Unterschied mehr wäre als ein subjektiver. (Vgl. meinen Aufsatz "Als ob" im "Zeitgeist" vom 10. März 1913 ff.)

Da es nun für die letzten Dinge jedesmal zwei entgegengesetzte Hypothesen gibt, wie denn Darwinistischer Materialismus und der transzendentale Realismus der Idealisten einander durchaus gleichberechtigt sind, so spricht die Vermutung dafür, was wir längst schon wissen, dass wir mit der Sprache immer nur an die Oberfläche der Dinge herantappen können, nie aber in ihr Inneres dringen, und zwar, dass wir von unserem Standpunkt aus immer nur an die eine Seite der Oberfläche herankommen. So ist für die Fische der Meeresspiegel von unten gesehen die Oberfläche der Luft; sie sind die Materialisten, die das obere Element für tödlich, für absolut leer, für bloßen Schein halten. Für die Vögel ist dann derselbe Meeresspiegel von oben gesehen die Oberfläche des Wassers; sie sind wie die Idealisten, die sich im Unsichtbaren lustig tummeln und das schwerere, dichtere, untere Element für tödlich, für undurchdringlich halten.

Wer nun meinen würde, man könnte, da doch die menschliche Sprache eine zu kurze Stehleiter sei, dadurch emporgelangen, dass man die beiden sprachlichen Hypothesen wie zwei Trittleitern mit den Spitzen gegeneinander lehnte, der wäre wieder im Irrtum. Erstens wäre die Gesamthöhe dann leider noch kürzer als die der einfachen senkrechten Leiter, zweitens aber besitzt eben der einzelne Kopf immer nur die eine Leiter, den einen Standpunkt. Und so wie die mathematische Fläche des ebenen Meeresspiegels dadurch nicht dicker wird, dass man die Vogel- und die Fischfläche summiert, wie der Tauchervogel oder der fliegende Fisch an metaphysischer Kenntnis den bloß fliegenden Vogel und den bloß schwimmenden Fisch nicht übertrifft, so kann der Mensch zur letzten Erkenntnis nicht dadurch vordringen, dass er seine gewohnte Sprache noch mehr verwässert oder aufbläht. Er kann dann die Wissenschaft "gemeinverständlich" machen; die Wirklichkeit sprachlich erfassen kann er nicht.