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"Jahr"

Jedermann wird mir zugeben, dass das Jahr, wie wir dieses Wort außerhalb der Astronomie und Kalenderkunde hundertfältig gebrauchen, nichts weiter ist als ein Begriff, ein bequemer Begriff, mit dem wir einen Zeitabschnitt bezeichnen und über den alle Menschen.einig sind. Wir wissen, dass der Anfang des Kalenderjahres nicht immer auf den ersten Januar gelegt worden ist; wir wissen, dass die Fixierung der Jahresdauer oder vielmehr ihre Einteilung in Monate und Tage noch in historischer Zeit, ja bis in die Gegenwart hinein Schwierigkeiten machte; aber gerade die Bemühungen des julianischen und des gregorianischen Kalenders, das Kalenderjahr mit der wirklichen Jahresdauer in Übereinstimmung zu bringen, lassen uns ohnehin annehmen, dass die wirkliche Jahresdauer der zugrunde liegende Begriff war. Hatte man sie auch früher nicht auf die Sekunde genau berechnet, so wußte man doch, was man sich unter ihr vorstellte. Jeder Schulknabe weiß heute, dass das Jahr die Zeit eines Umlaufs der Erde um die Sonne bedeutet.

Von einem Umlauf der Erde um die Sonne wußten aber die gelehrtesten Leute noch nichts, die etwa fünfzehn Geschlechter vor uns lebten. Dehnen wir diese kurze Spanne Zeit, ein paar hundert von diesen armseligen Jahren, noch ein bißchen aus, denken wir uns ein paar tausend Jahre zurück, und der Begriff Jahr verwandelt sich in ein Gesetz, dessen Aufdeckung sicherlich verhältnismäßig ungeheure Geistesarbeit erfordert hat. Ich meine das so:

In irgend einer Urzeit, in welcher die Menschen nicht auf Eisenbahnen zum Mittagessen fuhren, aber im übrigen schon Menschengehirne hatten, müssen wir sie uns doch so vorstellen, dass ihnen der Begriff des Jahrs noch nicht aufgegangen war, ebensowenig wie der Begriff der Minute oder Sekunde. In noch früherer Zeit, als das Menschengehirn dem Tiergehirn noch näher stand, mag ihnen langsam der Begriff oder das Gesetz aufgegangen sein, das uns als Wechsel von Tag und Nacht geläufig ist. In jener Urzeit aber, in die ich mich zurückversetze, kannten sie schon ganz genau diesen Wechsel, erwarteten nach dem Tage die Nacht und nach der Nacht den Tag, hatten aber in ihrer warmen Heimat keine Veranlassung, auf die regelmäßige Wiederkehr der Jahreszeiten zu achten. Es waren die Kepler jener Urzeit, welche ohne ein so lebhaftes Interesse der Not dennoch zu beobachten anfingen, dass die Stelle des Sonnenaufgangs sich eine gewisse Zeitlang nach rechts und dann wieder nach links schob, dass zwischen den Regenmonaten und diesem Spaziergang der Sonne ein gewisser Zusammenhang bestand. Ich denke mir nun, dass die Menschen durch das Gerücht vernahmen, diese Erscheinung verstärke sich noch an weniger begünstigten Stätten der Erde. Da werde es empfindlich kalt an den Tagen, an denen die Sonne zu weit rechts aufgehe. Irgend ein bewundernswerter Kepler der Urzeit mag nun, von unstillbarem Forschungsdrang getrieben, z. B. mit Beilhieben die kalten und warmen Tage gezählt und dazu den Weg der Sonne gemerkt oder verzeichnet haben. Gleichzeitig rückten die sich vermehrenden Menschen in noch nördlichere Gegenden vor, wo sich der Wechsel der Jahreszeiten dem Interesse fühlbarer machte. Als sie da viele, viele Tage (ein paar Dutzend Jahre nach unserer Ausdrucksweise) gelebt hatten, erfanden sie für die kalten Tage den Begriff Winter, für die warmen Tage den Begriff Sommer, kümmerten sich noch nicht um die Nuancen, die wir Frühling und Herbst nennen, und erfanden für den regelmäßigen Turnus eines Sommers und eines Winters zusammen das Wort oder den Begriff: ein Jahr. Und es konnte ihnen nicht entgehen, dass die aufeinanderfolgenden Jahre ungefähr gleichlang waren, dass die Sonne dabei nach rechts und nach links wanderte, dass endlich die Zeitdauer eines Jahres bequemer als die eines Tages war, um das Leben von Menschen und größeren Tieren danach zu bemessen.

Um dieselbe Zeit gelangte der bewunderungswürdige Kepler der Urzeit unter stupender Geistesanstrengung dazu, ein welterschütterndes neues Gesetz aufzustellen: Unsere Göttin Sonne geht nicht nur hinauf und herunter, und das alltäglich, sie wandert auch nach rechts und links. Diese Wanderung vollzieht sie regelmäßig, also gesetzlich in einem Turnus von etwas über 360 Tagen (wenn diesem Kepler der Urzeit die ungeheuerliche Ziffer 360 vorstellbar und mitteilbar war), an diese horizontale Wanderung der Sonne ist der regelmäßige Wechsel von gutem und schlechtem Wetter geknüpft; es ist ein Naturgesetz, dass in einem Turnus von soundsoviel Tagen die Witterung und die Sonne zu ihrem früheren Stande zurückkehren. Dieses Gesetz nannte der erstaunliche Mann den Jahreswechsel, und ich zweifle nicht, dass seine besseren Zeitgenossen sich einander erschüttert in die Arme fielen und glaubten, niemals werde die Menschheit ein tiefsinnigeres Naturgesetz erkennen; ich zweifle nicht, dass der Mann für seine Neuerung von den Pfaffen seiner Zeit zu Tode gemartert worden ist.

Und nun frage ich: welcher Unterschied besteht zwischen dem Begriffe Jahr, welcher bei dem einen Volke durch Abstraktion enthüllt, und zwischen dem Gesetze Jahr, welches bei dem anderen Volke durch Induktion "bewiesen" wurde? Die Abstraktion konnte nur um Kleinigkeiten weiter getrieben werden; die Induktion führte zu einer immer genaueren Beobachtung. Wir sagen das so. Aber das große Naturgesetz des Jahreswechsels ist unter seinen verschiedenen Erklärungen durch Ptolemäos, Kopernikus und Kepler doch immer nur ein Begriff geblieben, ein immer deutlicherer Begriff, den wir in unserem wissenschaftlichen Denken zu einer Unmenge von sogenannten Urteilen und Schlüssen auseinander legen. Induktion führt genau wie Abstraktion nur zu Begriffen.

Ich glaube das Beispiel gut gewählt zu haben. Es muß jedem Leser einleuchten, dass der neu entdeckte Jahreswechsel wer weiß wie lange den gebildeteren Menschen jener Zeit ein schwieriges, nur durch hohe mathematische Kenntnisse — das Zählen bis 360 — klarzumachendes Naturgesetz war, den ungebildeten ein Mysterium. Ebenso ist das Weltsystem, das von Kant und Laplace auf Newtons Naturgesetz der Gravitation aufgebaut worden ist, heute noch eine beschwerliche Wissenschaft und kann doch vielleicht einem späteren Geschlechte zu einem geläufigen Begriff werden. Es ist kein Zufall, dass in dem einen wie dem anderen Falle zwischen der unfertigen Erfahrung und dem verwendbaren Begriff eine mathematische Formel steht. In jener Urzeit war die Beherrschung der Ziffer 360 gewiß nicht weniger schwierig als heute die Differentialrechnung. Und in der Anwendung der Mathematik auf die Begriffsbildung oder Induktion dürfte das liegen, was wir auch nach meiner Darlegung als einen Unterschied zwischen Induktion und Abstraktion, zwischen Gesetz und Begriff empfinden. Ich gestehe auch, dass ich selbst einen solchen Unterschied nicht zu empfinden mich nur schwer zwingen kann. So sehr stehe ich bei dieser Untersuchung unter dem Banne des Sprachgebrauchs, den ich bekämpfe.