Induktive Begriffsbildung
Die Behauptung, dass die Bezeichnung Induktionsschluß für den Gehirnvorgang der Induktion sinnlos sei, dass die Lehre von der Induktion ganz und gar in die Psychologie gehöre, scheint ein Streit um Worte zu sein, solange nicht hell geworden ist, dass Induktion nichts weiter ist als diejenige Assoziation von Sinnesempfindungen, durch welche Assoziation Begriffe oder Worte entstehen, beziehungsweise in ihrer Anwendung verändert werden.
Ein vollkommener Induktionsschluß — wenn es einen solchen gäbe — wäre nichts weiter als der Ausdruck der Tatsache, dass ein Menschengehirn durch Beobachtung sämtlicher Individuen einer Art dazu gelangt ist, von dieser Art ein bestimmtes Prädikat auszusagen, das heißt doch eigentlich, sich bei dem Worte oder Begriff dieser Art eine bestimmte Eigenschaft oder (allgemeiner) eine bestimmte Wirkung mit zu denken. Möglich sind solche vollkommene Induktionen überhaupt nur bei den Begriffen, die eine beschränkte Anzahl von Individuen umfassen. Es kann ein einzelner Mensch wohl sämtliche existierende Pyramiden untersuchen, sämtliche bisher entdeckte Planeten beobachten. Der unbewußte Vorgang der Induktion wird nun darin bestehen, dass der Begriff Pyramide mitenthält: es seien riesige, viereckige, spitzige Grabdenkmäler der Pharaonen. Wird nun z. B. irgendwo eine ganz kleine Pyramide aufgefunden, so hat das zur Folge, dass dieses kleine viereckige, spitzige Grabdenkmal nicht mehr unter den Begriff Pyramide fällt oder dass wir bei diesem Worte aufhören, uns Riesengröße mitvorzustellen. Wird aber irgendwo z. B. das Fundament einer bisher unbekannten Pyramide aufgefunden, so wird der bisherige Begriff (nicht die Gewißheit, auch nicht einmal die Wahrscheinlichkeit, sondern nur) den Wunsch in uns wachrufen, dass wir ein Grabgewölbe vorfinden möchten. Von einem Schlüsse kann dabei nicht die Rede sein. Jeder Schluß wäre falsch, auch dann, wenn die Tatsachen ihn bestätigten. Dann wäre nur die neue Beobachtung richtig, nicht aber der Schluß, der uns aufforderte, sie anzustellen. Der Fall liegt ähnlich bei dem Begriff der Planeten, von denen wir auch nur eine beschränkte Zahl kennen. Die Astronomen haben die Erde als einen Planeten erkannt, haben ihre Achsendrehung nachgewiesen und haben die Achsendrehung auch bei einigen großen Planeten beobachtet. Damit ist in ihren Vorstellungen die Induktion entstanden, dass ein Planet sich um sich selber drehe; das ist natürlich kein Schluß, sondern nur der Weg zu einer reicheren Begrifisbildung. Die Alten benannten die ihnen bekannten fünf Planeten danach, dass sie zwischen den Fixsternen willkürlich umherzuwandern schienen. Es waren ihnen Wandersterne. Die neuere Astronomie hat das sinnlos gewordene griechische Wort beibehalten, stellt sich aber darunter eine Anzahl von Himmelskörpern vor, die um sich selbst und um die Sonne rotieren, deren Bahnen alle ungefähr in der gleichen Ebene liegen usw. Es ist richtig, dass sehr viele von diesen Umständen darum entdeckt wurden, weil man nach der besseren Beobachtung der Erdbewegungen durch Induktion zu der "Erwartung" kam, jeder andere Planet werde ähnliche Bewegungen zeigen. Die Erwartung war richtig, der Schluß wäre falsch gewesen. Solange die Achsendrehung nicht bei sämtlichen Planeten sicher beobachtet ist, solange darf die Wissenschaft den Satz nicht aufstellen: alle Planeten bewegen sich um ihre eigene Achse. Daran ändert das Kausalitätsgesetz nichts. Wohl lehrt uns das allgemein für wahr angenommene Kant-Laplacesche Sonnensystem, dass jeder Weltkörper, den wir einen Planeten nennen, sich um seine eigene Achse drehen müsse. Aber dieses System ist eben nur eine Hypothese, das heißt der Gang der Begriffsbildung ist noch nicht abgeschlossen; wir wissen noch nicht mit Sicherheit, welche Himmelskörper wir Planeten nennen "sollen" und welche Eigenschaften wir mit Sicherheit mit diesem Begriff verbinden sollen. Beobachtete man auch nur einen Planeten ohne Achsendrehung, so wäre entweder das Kant-Laplacesche System zu korrigieren oder die Anwendung des Wortes Planet einzuschränken. Genau so wie bei einer Pyramide ohne Grabgewölbe. Und entdeckte man einen Planeten, dessen Bahn senkrecht stünde zu der ungefähren Ebene der übrigen Planetenbahnen, so wäre wieder entweder das System oder das Wort in Frage gestellt.
Ganz ebenso verhält es sich mit derjenigen Induktion oder Begriffsbildung, die wegen der unzähligen Einzelfälle nie vollständig werden kann. Wie die Planeten bei den Alten ihren Namen von ihrer scheinbaren Wanderung hatten, so hatten die Rosen ihren Namen davon, dass man nur rote Rosen beobachtet und unter ein Wort zusammengefaßt hatte. Die Etymologie (oder Volksetymologie) ist sinnlos geworden, seitdem und weil wir uns entschlossen haben, solche Blumen weiter Rosen zu nennen, auch wenn sie weiß oder gelb sind. Die Induktion führt uns ferner gewiß zu der Erwartung, dass jede Rose angenehm rieche. Nun hat irgend ein armer Teufel von Gärtner die schöne Madame-Rothschild-Rose gezüchtet, welche nicht ein bißchen duftet. Unser Sprachgebrauch nennt diese Blume trotzdem eine Rose. Gäbe es einen Induktionsschluß, so müßte nach Millionen von Fällen auch die Rothschild-Rose duften. Wer von ihr und anderen (für Menschen) geruchlosen Rosen nichts weiß, wird den Satz "jede Rose duftet" für einen unbedenklichen Induktionsschluß halten. Wissenschaftlich ist er schon wegen einer einzigen Gegeninstanz unhaltbar. Die Sprache aber hält ihn unbekümmert um die Logik aufrecht. Die Erwartung, dass jede einzelne Rose duften werde, wird durch den Sprachgebrauch erregt. Wer nun eine nichtduftende Rose findet, wird sich wundern. Wäre die Induktion oder die Begriffsbildung, welche mit dem Worte Rose den Duft verbindet, ein logischer Schluß, dann wäre die Rothschild-Rose in der Tat ein Wunder. Alle Wunder — soweit sie nicht Sinnestäuschungen oder Betrügereien waren — sind ein Verwundern über die Ungenauigkeit der Sprache gewesen.
Die Aufhebung und Vernichtung eines Wortgebrauchs durch einen einzigen Ausnahmefall, durch eine sogenannte Gegeninstanz, ist allerdings in der wissenschaftlichen Sprache die Regel. Und in diesem vorläufigen Verwenden aller Worte — bis auf den Gegenbeweis durch eine einzige Instanz — liegt allerdings etwas, was mitunter einer vollständigen Induktion nahe kommt, das heißt einer vollständigen Begriffsbildung.
Ein Wort oder ein Begriff ist das Erinnerungszeichen an die Ähnlichkeit zeitlich und räumlich getrennter Sinneseindrücke. Zur Erkenntnis der Wirklichkeitswelt oder zur sicheren Verwertung künftiger Sinneseindrücke wird so ein Wortzeichen erst durch möglichst vollkommene Induktion brauchbar. Habe ich tausendmal täglich, also millionenmal seit meiner Geburt, bei Berührung eines Körpers die Sinnesempfindung des Widerstandes gehabt, so entsteht in mir der Begriff der Härte, der Undurchdringlichkeit, oder wie man sonst diese Eigenschaft der Körper nennen will. Mein eigenes Gedächtnis hat mir Millionen Fälle geliefert und keine einzige Gegeninstanz. Anders liegt die Sache mit einem so geläufigen Begriff wie dem der Sterblichkeit aller Menschen. Der Einzelne hat vielleicht in seinem ganzen Leben zwei oder drei Menschen sterben sehen. Die Nachricht von dem Tode sehr vieler Menschen, die seine Erinnerung ihm sonst bietet, verdankt er den Todesanzeigen der Zeitungen und Privatmitteilungen, sowie dem Lesen der Weltgeschichte, also unzuverlässigen Quellen. Trotzdem ist der Begriff der Sterblichkeit in uns aus Milliarden von Fällen, ohne eine einzige Gegeninstanz, richtig entstanden. Es ist nämlich für die Erinnerung des Einzelnen die Erinnerung des Menschengeschlechtes eingetreten. Seitdem es Menschen gibt, haben immer die jüngeren Geschlechter die älteren sterben sehen, die Einzelnen immer nur Einzelne, aber alle haben alle sterben sehen. Schon eine Lebensdauer über hundert Jahre hinaus ist eine so auffallende Erscheinung, dass sie regelmäßig in der Erinnerung eines engeren Kreises bewahrt worden ist. Das Ausbleiben des Todes wäre also ein solches Wunder, eine solche Sprachwidrigkeit gewesen, dass jeder solche Fall einer Gegeninstanz ganz gewiß im Gedächtnis der Menschheit verwahrt worden wäre. Da uns aber aus allen Milliarden von Menschenleben nicht ein einziger Fall von Unsterblichkeit glaubhaft überliefert worden ist, so beruht der Begriff Sterblichkeit als zum Begriff Mensch gehörig auf einer nahezu vollkommenen Induktion, das heißt auf einer Unzahl von Fällen, denen keine Gegeninstanz gegenübersteht. Denselben Weg hat die Begriffsbildung auch bei den einfachsten konkreten Worten eingeschlagen. Seitdem die Menschheit die kälteren Zonen der Erde bewohnt oder seitdem die bewohnte Erde kälter geworden ist, hat man den Begriff Schnee bilden müssen. Keine ausdenkbare Ziffer ist groß genug, um die Schneeflocken zu zählen, die der Einzelne im Laufe seines Lebens oberflächlich gesehen hat. Unausdenkbar größer ist die Zahl der Flocken, die seit der Existenz der Menschheit auf Erden gefallen sind. Gegen den Begriff aber, dass Schnee kalt sei, ist niemals eine Gegeninstanz entdeckt worden. Wir werden also wohl ein Recht haben, mit dem Worte Schnee Kälte, gefrorene Wasserteilchen zu verbinden. Die Menschheit war es, die durch Induktion diesen Begriff gebildet hat. "Schnee" ist aber natürlich kein Schluß, sondern ein Wort. Und der ganze Unterschied zwischen der kindlichen alten Zeit und unserer viel gerühmten Wissenschaftlichkeit besteht nicht in einer besseren Logik, sondern in einer genaueren Beobachtung. Aristoteles besaß kein Thermometer, konnte darum den Gefrierpunkt des Wassers nicht jederzeit auf einen Haarstrich genau bestimmen und konnte darum auch nicht die Zubereitung von Erdbeereis lehren. Aber sein Begriff Schnee war darum nicht viel schlechter als der unsere. Nur weil er die Induktion für eine Art des logischen Schlusses hielt, redete er Unsinn, sobald er über die Erfahrung hinausging, das heißt ein Wort über die Geschichte seiner Bildung hinaus verwandte. Er sah, dass das einzelne Schneestückchen ein durchsichtiger Eiskristall sei. Darum erklärte er den durchsichtigen Bergkristall für eine Art Eis. Das kommt uns lächerlich vor. Wir sind aber jeden Tag bereit, denselben Fehler zu begehen, sowie wir beim Gebrauch eines Wortes die Sinneseindrücke vergessen, an die es allein erinnern will. Hätte Aristoteles gewußt, dass die bewohnte Menschenerde ein Planet sei, so hätte er ganz gewiß den lächerlichen Induktionsschluß gezogen, auch die übrigen Planeten seien von Menschen bewohnt. Und dieser lächerliche Induktionsschluß wird heute noch von allen denen gezogen, welche behaupten, der Mars sei von Menschen bewohnt.
Die Gelehrten aber, welche diese Behauptung nicht geradezu aufstellen, welche aber doch die Frage zu beantworten suchen, unterliegen demjenigen, was das Wesen der Induktion ausmacht: der Verführung zu einer Erwartung, eine Verführung durch Wunsch, nicht durch "Schließen". Und wenn wir die Physiologie unseres Gehirns besser kennen würden, so würden wir vielleicht hinter das Geheimnis kommen, dass erstens das eigentlich so genannte Denken, das syllogistische Schließen nichts ist als das durch Hemmung hervorgerufene Bewußtwerden unserer Erinnerungszeichen oder Worte, dass zweitens der in die Logik hineingestoßene scgenannte Induktionsschluß nichts ist als die durch Jahrtausende langsam vor sich gehende Bildung oder Kristallisation eben jener Worte, welche dann im sogenannten Denken gewissermaßen wieder flüssig werden, dass drittens der Grund dieser Wortbildung oder Induktion in nichts Anderem besteht als in der Bequemlichkeit unseres Gehirns, in der größeren Leichtigkeit oder Passierbarkeit schon benutzter Nervengleise für gleiche Sinneseindrücke. In der Bequemlichkeit und Leichtigkeit liegt die Verführung zur Induktion, zur richtigen wie zur falschen.
Nur weil man die Induktion für eine Schlußform hielt und sie darum einer phantastischen Logik überwies, geriet man in die Verlegenheit, die Begriffsbildung, das eigentliche Wesen der Induktion, anders und noch phantastischer erklären zu müssen. Man behauptete, durch Induktion zur Kenntnis der Gesetze und durch einen nie in der Wirklichkeitswelt des Gehirnlebens beobachteten Vorgang, den man Abstraktion nannte, zur Kenntnis der Begriffe zu gelangen. Wir aber kennen keine Gesetze, wir kennen überhaupt keine Sätze, die nicht schon in den Begriffen enthalten wären. Wir werden also geneigt sein, den Begriff Abstraktion aus unserem Sprachschatz hinauszuwerfen und an seine Stelle, wenn die Stelle schon ausgefüllt werden muß, das viel mißbrauchte Wort Induktion zu setzen.
Eine besondere Art der induktiven Wortbildung ist die Entstehung unserer mathematischen Grundbegriffe. Der Idealbegriff eines Hundes, der sich mit keinem einzigen Wirklichkeitshunde deckt, ist nicht so sehr verschieden von dem Idealbegriff einer Geraden, der keine einzige wirkliche Gerade entspricht. Wir haben noch niemals parallele Linien bis ans Ende des Raums verfolgt und haben uns dennoch den Idealbegriff parallel gebildet. Mit der Zurückführung mathematischer Grundbegriffe auf unsere Art der Induktion wird der theologischen Lehre von den angeborenen Ideen der letzte Halt entzogen.
Haben wir uns aber klargemacht, dass alle Erkenntnis der Natur und ihrer sogenannten Gesetze begründet und aufgestapelt ist in unserem Sprachschatz oder den Erinnerungszeichen der Menschheit, haben wir uns ferner klargemacht, dass die Worte dieses Erinnerungslagers von jeher bis auf den heutigen Tag durch eine unvollendete und bis an das Ende aller Dinge nicht zu vollendende Induktion gebildet worden sind, so werden wir wieder nicht daran zweifeln können, dass eine Erkenntnis der Wirklichkeitswelt durch solche nie zu vollendende Werkzeuge niemals vollendet werden kann. Was wir für Wissenschaft halten, ist immer der jeweilige Sprachgebrauch. Der Sprachgebrauch ist ein Tyrann, er beherrscht aber nicht nur die Laute, die unsere Sprachwerkzeuge von sich geben, er beherrscht ebenso das, was wir unser Denken zu nennen pflegen. Wir blicken verächtlich zurück auf den Sprachgebrauch oder das Denken weit zurückliegender Völker; unser eigenes Denken verachten wir nur darum nicht, weil wir nicht wissen, dass es nur Sprachgebrauch ist. So lachen wir über die Sitten und Kostüme von Indianern, nicht aber über unsere eigenen Sitten und unser eigenes Kostüm.
Wir haben erfahren, dass die Entwicklung der menschlichen Sprache durch Metaphern oder Bilder vor sich gegangen ist, durch Vergleichung von Ähnlichkeiten. Die unbewußte Vergleichung von Ähnlichkeiten, wie sie unaufhörlich von unserem Gehirn geübt wird, ist auf ihrer einfachsten Stufe die Induktion oder Wortbildung. Ist diese Vergleichung ganz ungenau und ungewiß, so heißt sie Analogie, und auch dieser phantasievolle Vorgang wird von der Logik für sich in Anspruch genommen und Analogieschluß genannt. Analogie und Induktion führen beide nur zu Hypothesen, zu besser oder schlechter begründeten. Jedes Wort unserer Sprache ist das Aufdämmern einer Ähnlichkeit, ist eine Hypothese, und aus Hypothesen läßt sich nichts beweisen. Induktion führt nur zu Worten, nicht zu Beweisen. Sprache, Hypothesen, Wissenschaft, es sind nur verschiedene Ausdrücke für denselben Vorgang, der uns verführt, irgend etwas zu erwarten, mit größerer oder geringerer Wahrscheinlichkeit zu erwarten.