Haltung des Körpers. (Schöne Künste) Wir verstehen hier durch dieses Wort das, was man gemeiniglich durch das französische Wort Maintien ausdrückt, die charakteristische Art, wie ein Mensch bei den verschiedenen Stellungen und Gebärden sich trägt oder hält. Fast alle Arten des sittlichen Charakters können, bei jeder Art der Stellung und Gebehrdung, schon durch die Haltung des Körpers ausgedrückt werden; das Auge des Kenners entdeckt darin Unschuld oder Frechheit, Güte der Seele oder Härtigkeit des Herzens, edles oder niedriges Wesen. Die Haltung ist gleichsam der Ton der Stellung und der Gebärden; denn wie einerlei Worte, durch den Ton in dem sie gesagt werden, von ganz verschiedener Kraft sein können, so können auch einerlei Gebärden durch die Haltung einen verschiedenen Charakter bekommen. So unmöglich es auch ist, das was zur Haltung gehört, zu beschreiben, so klar und gewiss ist doch ihre Wirkung auf den feinen Kenner. Sie ist eines der Mittel, wodurch die Seele sichtbar gemacht wird.
In den zeichnenden Künsten, im Schauspiel, im Tanz und auch in dem Vortrag der Rede, ist sie von der größten Wichtigkeit, weil sie uns oft Dinge empfinden lässt, die uns durch kein anderes Mittel empfindbar könnten gemacht werden. Es war die Haltung, aus welcher nach Virgils Beobachtung Äneas die Venus erkannte: Incessu patuit Dea; und so kennt man den Apollo im Belvedere für den Gott des Lichts. In Raphaels Geschichte der Psyche erscheint diese Braut des Amors mehr als einmal in einer Haltung, die uns ein höchst naives und liebenswürdiges Wesen in ihrem Charakter lebhaft empfinden lässt. In den zeichnenden Künsten ist die Vollkommenheit der Haltung das Höchste der Kunst, weil sie den Figuren das Leben gibt und durch dieses Leben die Seele sichtbar macht. In den mimischen Künsten ist es die Haltung allein, die uns anstatt des Schauspielers oder Tänzers die Personen selbst, die sie vorstellen, vors Gesicht bringt und die höchste Täuschung bewirkt; in dem Vortrag der Rede aber könnte sie allein, wenn auch die Worte unvernehmlich wären, die Überzeugung bewirken.
Aber dieser Teil der Kunst liegt ganz außer der Kunst; nicht der Künstler, sondern der Mensch von empfindsamer Seele, der jede Äusserung des unsichtbaren Wesens, das den Körper belebt, vermag zu bemerken und an sich selbst zu empfinden, sieht den Charakter und den besonderen, aus der Empfindung entstehenden, inneren Zustand des Menschen in der Haltung des Leibes. Nicht darum, weil Phidias ein Bildhauer war, konnten die Griechen etwas von der Majestät der Gottheit in dem Bilde seines Jupiters fühlen, sondern darum, weil er seine Seele zur Emp findung der Hoheit des göttlichen Wesens erheben konnte. So zeigt ein Garrik jeden Charakter und jede Empfindung in der Haltung des Leibes, nicht, weil er ein gelernter Schauspieler ist, sondern weil er ein Auge hat, das jeden Winkel des menschlichen Herzens durchschauet und ein Herz, das selbst alles empfindet, was ein menschliches Gemüt zu empfinden vermag.
Darum würde der Künstler diesen wichtigen Teil vergeblich durch Unterricht zu lernen suchen; er muss ihn ganz durch sich selbst haben. Die Kunst dient bloß dazu, dass man das, was man selbst richtig bemerkt und lebhaft empfindet, ausdrucken könne; dieses Sehen aber und Empfinden muss der Kunst vorhergehen. Ein großer Geist, ein wahrer Kenner der Menschen, der, dem in der sittlichen Welt nichts unbemerkt bleibt, hat die Anlage durch das Studium der Kunst groß zu werden; und wenn diese Anlage durch die Vollkommenheit der äußeren Sinnen, durch anhaltende Übung derselben unterstützt worden, so ist der große Künstler gebildet: er ist allemal ein scharfer Beobachter und ein großer Kenner der Menschen.