Harmonie - Harmonie und Melodie
Man hört gar oft über Melodie und Harmonie die Frage aufwerfen, welche von beiden der wichtigere Teil der Kunst sei; so wie in der Malerei über die Frage, ob die Zeichnung oder das Kolorit, den ersten Rang habe, vielfältig gestritten worden. Die Entscheidung dieser Frage sollte keinem Zweifel unterworfen sein; da jetzt ausgemacht ist, dass die Musik lange Zeit ohne Harmonie gewesen. Kann man in Abrede sein, dass ein Tonstück nur durch die Melodie der Rede ähnlich werde und dass sie auch ohne Wörter die Empfindungen des Singenden zu erkennen gebe? Der Ausdruck und besonders der Grad der Leidenschaft kann doch schlechterdings nur durch den Gesang und Takt fühlbar gemacht werden. Welcher Tonsetzer wird sagen dürfen, dass ihn die Regeln der Harmonie jemals auf Erfindung eines glücklichen Thema oder eines Satzes geführt haben, der auf das genaueste die Sprach irgend einer Leidenschaft ausdrückt? Dasjenige also, was das Tonstück zu einer verständlichen Sprache eines Empfindung äußernden Menschen macht, ist unstreitig von der Harmonie unabhänglich. Und trift man nicht täglich recht sehr schöne Sachen an, die von selbst gelernten Tonsetzern herkommen, die wenig von Behandlung der Harmonie wissen?
Wenn wir der Melodie den Vorzug über die Harmonie einräumen, so wollen wir deswegen die Wichtigkeit der Harmonie nicht streitig machen. Wir haben schon erinnert, dass mehrstimmige Sachen, Duette, Trio, Chöre unter die wichtigsten Werke der Musik gehören. Nun kann ein Mensch das größte Genie zu melodischen Erfindungen haben und doch nicht im Stande sein, vier Takte in einem Duett oder Trio richtig zu setzen. Denn hierzu ist die genaueste Kenntnis der Harmonie unumgänglich notwendig. Aber auch außer diesen Fällen, wo nur eine einzige Melodie vorhanden ist, wie in Arien, ist die Kenntnis der Harmonie entweder notwendig oder doch von großem Nutzen. Notwendig ist sie zu solchen Stücken, wie die heutigen Opernarien sind, da ein kurzer melodischer Satz, der den wahren Ausdruck der im Text geäußerten Empfindung enthält, etwas ausführlich muss behandelt und durch eine gute Modulation in verschiedenen Schattierungen vorgetragen werden. Ohne Kenntnis der Harmonie hat keine Modulation statt; und jedermann empfindet, wie kräftig bisweilen der Ausdruck selbst durch die Harmonie unterstützt werde. Nicht selten geschiehet es, dass gewisse tief ins Herz dringende Töne ihre Kraft bloß von der Harmonie haben; wie aus verschiedenen chromatischen und enharmonischen Gängen könnte gezeigt werden, wo es ohne gründliche Kenntnis der Harmonie nicht möglich gewesen wäre, selbst in der Melodie auf die Töne, die eben die nachdrücklichsten sind, zukommen.
Überdem ist es doch unleugbar, dass auch schon in der Harmonie selbst einige Kraft zum Ausdruck liege. Ein starker Harmoniste kann, ohne Melodie, Bewegung und Rhythmus, viel Leidenschaftliches ausdrücken und das Gemüt auf mancherlei Art in Unruh setzen oder besänftigen. Sind nicht bisweilen einzelne Töne, die der Schmerzen oder das Schrecken oder die Verzweiflung erpreßt, so kräftig, dass sie ins innerste der Seele dringen? Dergleichen Töne können schlechterdings nur durch künstliche Harmonie nachgeahmt werden; denn ihre Kraft liegt allemal in dem, was sie Dissonierendes haben. Ein einziger Ton einer reinen Saite, ist allemal angenehm und ergötzend; aber eine nicht reine Saite kann einen nicht bloß unangeneh men, sondern wirklich leidenschaftlichen Ton hören lassen. Nun ist der Klang einer reinen Saite aus harmonischen Tönen zusammengesetzt, der Klang der unreinen Saite hingegen ist eine Vermischung harmonischer und unharmonischer Töne, die gewiss nur derjenige ausfindig zu machen und nachzuahmen im Stand ist, der die Harmonie vollkommen versteht.
Darum muss ein guter Tonsetzer notwendig so wohl Harmonie als Melodie besitzen. Man kann es nicht anders als eine, sich dem Verfall der Kunst nähernde, Verändrung der Musik ansehen, dass gegenwärtig das Studium der Harmonie mit weniger Ernst und Fleis getrieben wird als es vor unseren Zeiten, im Anfang dieses und in den beiden vorhergehenden Jahrhunderten geschehen ist. Da man nicht wohl anders zu einer völligen Kenntnis der Harmonie kommen kann als durch solche Übungen und Arbeiten, die sehr mühsam und troken sind, so werden sie von vielen für Pedanterei gehalten. Aber diese Pedanterie, die vollstimmigen Chorale, alle Arten der Fugen und des Kontrapunkts, sind die einzigen Arbeiten, wodurch man zu einer wahren Fertigkeit in der Harmonie gelangt. Es ist deswegen zu wünschen, dass die Art zu studiren, die ehedem gewöhnlich war, da man die Schüler in allen möglichen Künsteleien der Harmonie übte, nicht ganz abkommen möge. Durch diesen Weg sind Händel und Graun groß worden und durch die Verabsäumung desselben sind andre, die vielleicht eben so großes Genie zur Musik gehabt haben als diese, weit hinter ihnen zurück geblieben.
Die Wissenschaft der Harmonie ist lange Zeit, beinahe wie ehedem die geheimen Lehren einiger philosophischen Schulen, nur durch mündliche Überlieferungen fortgepflanzt worden. Denn was auch die besten Harmoniker davon geschrieben haben, enthält kaum die ersten und leichtesten Anfänge der Kunst. Es scheint auch, dass die größten Meister die harmonischen Regeln mehr empfunden als durch deutliche Einsicht erkennt haben; deswegen sie mehr durch Beispiele als durch Vorschriften, unterrichteten. Man muss dem Rameau die Gerechtigkeit widerfahren lassen, dass er der erste gewesen, der diese Wissenschaft methodisch vorzutragen unternommen hat. Wenn also gleich in seinem System über die Harmonie viel willkürliches ist und sein Gebäude noch viel schwache Teile hat, so bleibt ihm dennoch der Ruhm eines Erfinders. Und nun ist nicht zu zweifeln, dass die Harmonie nicht allmählich eben so, wie andere Wissenschaften, in einem gründlichen und zusammenhängenden System werde vorgetragen werden.