Hirtengedichte - Idyllen und Idyllendichter


»Die Muse hat zu allen Zeiten die ländlichen Szenen und das kunstlose freie und anmutige Landleben geliebt. Vermutlich hat eben diese glückliche Lebensart der ältesten Menschen der Poesie den Ursprung gegeben. Die schöne Natur mit allen ihren lieblichen Abwechslungen und die Freiheit, die uns in den ungestörten Genuß ihrer Gaben setzt, flößen dem Menschen eine Fröhlichkeit ein, die manchmal zu einem so hohen Grad steigt, dass sie seine ganze Seele begeistert, seine Einbildungskraft erhitzt und alle seine Gliedmaßen mit reger Munterkeit durchdringt. In diesem süßen Taumel angenehmer Empfindungen ergießt sich unsere Stimme von sich selbst in ungelehrte Töne, die unsere Freude ausdrücken und auch auf andere eine sympathetische Wirkung tun. Dieses war ohne Zweifel der erste Ursprung des Gesangs, welcher dann bald auch die Dichtkunst hervorbrachte, die anfangs nur in kunstlosen Liedern bestand, worin die Menschen die Rührungen ausdruckten, welche die Natur, die Freiheit und die Liebe, die Quellen ihrer Glückselig keit, in ihnen hervorbrachten. Der Wetteifer musste diese Erfindungen der Natur, schnell zu immer höheren Graden der Vollkommenheit forttreiben. Was anfangs regellose Versuche oder vielmehr Wirkungen des Instinks waren, wurde nach und nach zur Kunst; man fing an, über den Ausdruck der Empfindungen zu raffiniren, die Gemälde der schönen Gegenstände, wovon man gerührt war, besser auszubilden, den geheimern Schönheiten derselben nachzuspühren und die Worte auf eine wohlklingende Art zusammen zu ordnen. Die aufgeweckten Köpfe, welche die Natur mit dem poetischen Geist vorzüglich begabet hatte, übertrafen in kurzen die übrigen so weit, dass man sie für besondere göttlich begeisterte Leute hielt, denen es allein zukomme, Lieder und Gedichte zu machen, welche an Festtagen und bei allerlei freudigen Anläßen gesungen werden könnten. So entstanden die Sänger und Dichter in diesem einfältigen Zeitalter und ihre Gesänge waren die wahren ursprünglichen Idyllen, von denen nichts auf uns gekommen ist, entweder weil die Schreibkunst viel später erfunden worden als die Sing- und Dichtkunst oder weil die kriegerischen eisernen Zeiten, welche dieses goldne Weltalter verdrungen haben, auch diese anmutigen Früchte desselben verderbet haben. Was wir Idyllen heißen, sind bloß Nachahmungen jener ursprünglichen Waldgesänge, welche die Natur selbst ihren Kindern eingab. Theokrit hat unter den Griechen diese nachgeahmten Idyllen zu einer großen Vollkommenheit gebracht. Er fand in seinem Zeitalter noch viele Überbleibsel der nicht gefabelten goldnen Zeit; die Lebensart der Landleute war freier, glücklicher und angesehener als sie heut zu Tage ist. Er scheint deswegen seine reizenden Gemälde vielmehr aus der wirklichen Natur, so wie er sie vor Augen hatte als der Schäferwelt oder dem goldnen Alter, welches seine eigne Phantasie hätte erschaffen müssen, hergenommen zu haben; und eben deswegen sind seine Hirten nicht so unschuldig und liebenswürdig als sie sein könnten. Dagegen konnte er, weil er nach einem Original zeichnete, das er vor sich hatte, eine Menge kleiner lebhafter Züge und naiver Wendungen hineinbringen, die einem Dichter, der nur nach Phantasiebildern arbeitet, entwischen müssen. Es hat unter den Neuern italienischen und französischen Dichtern viele gegeben, welche Gedichte unter dem Namen Idyllen gemacht haben: aber entweder tun sie nichts weiter als dass sie den Virgil copieren, der selbst größtenteils ein freier Übersetzer des Theokrit ist oder sie machen ihre Hirten zu spitzfindigen Stutzern und ihre Schäferinnen zu tiefsinnigen Meisterinnen in der platonischen Liebe oder gar zu Dames du bel Air. Pope hat bei den Engländern in vier Idyllen den Virgil nachgeahmt. Die deutsche Nation hat den ersten wahren und glücklichen Nachahmer des Theokrit aufzuweisen, der, ohne ihn auszuschreiben oder in seine Fußstapfen ängstlich einzutreten, ihm darin gleicht, dass er die schöne Einfalt der Natur meisterlich geschildert hat. Es scheint, dass er den Theokrit, der sonst in nichts übertroffen werden konnte, darin übertroffen habe, dass er seine Hirten liebenswürdiger macht. Er, Geßner, ist ein eben so glücklicher Maler der feinsten und naivsten Empfindungen und zärtlichsten Affekte als der sanften und lieblichen Szenen der Natur. Sein zarter Geschmack hat ihn eine Menge kleiner Schönheiten in derselben entdecken gemacht, die seinen Gemälden alle Reitze der Neuheit geben, auch wenn gleich die Gegenstände die alltäglichsten sind. Er ist wirklich in die Schäferwelt, in das goldne Alter eingedrungen und seine Idillen würden vielleicht ganz vollkommen sein, wenn er die Szene derselben nach Mesopotamien oder Chaldäa versetzt und anstatt der ungereimten Vielgötterei der Griechen, seinen Hirten die natürliche Religion, mit einigem unschuldigen Aberglauben vermischt, gegeben hätte.

Ein Idyllendichter muss vielmehr durch die Natur und durch solche Muster als durch besondere Regeln gebildet werden. Er muss freilich die Natur dieser Art von Gedichte, so wie sie oben von uns angegeben worden, kennen; aber es wird ihm nichts helfen, wenn er schon weiß, dass Idyllen Gemälde aus der unverdorbnen Natur sind, dass die Sitten und Empfindungen der Hirten von allem gereinigt sein müssen, was bei policierten Völkern unter den Namen der Gebräuche, des Wohlstands, der Politesse und dergleichen, die freien Wirkungen der Natur hindert; dass sie von unseren schimärischen Gütern nur keine Ideen haben müssen; dass sie nichts davon wissen sich der zärtlichen Empfindungen zu schämen, wodurch der Schöpfer die Menschen unter einander aufs engeste zuverbinden gesucht hat; mit einem Wort, dass sich in ihren Empfindungen, Sitten, Gewohnheiten und in ihrer ganzen Lebensart die nakte Natur ohne alle Kunst, Verstellung, Zwang oder andere Verderbnis zeigen muss; wenn er schon alle diese Regeln weiß, so wird er doch unfähig bleiben, seine Vorgänger nur zu erreichen, geschweige dann zu übertreffen, wenn ihn nicht sein eigner ungekünstelter Charakter und ein unverdorbner Geschmack und eine besondere Zärtlichkeit der Empfindungen die Anlage zu den Gemälden, die er schildern soll, in Sich selbst finden lassen.«


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