Nachträgliches zum Prozeß Beer
November 1905
Eine große Frage beschäftigt zur Zeit die kriminalistischen Kreise. Die Reform des Strafgesetzes? Nein. Die Frage ist einfacher, aber wichtiger. Sie lautet: Darf Professor Beer Nachtlokale besuchen? Wie ein Lauffeuer ging es durch die Korridore des Landesgerichts, brach es durch die Türen der Amtszimmer: Professor Beer ist am Tage nach seiner Verurteilung im »Casino de Paris« gesehen worden! Und bezeichnenderweise nicht in einer Gesellschaft von Mitgliedern der St. Petrus Claver Sodalität, sondern von literarischen Bohemiens. Ist es erhört? Da hat man diesen Menschen gegen eine Kaution von 200.000 Kronen auf freien Fuß gesetzt, und anstatt in sich zu gehen, geht er ins Casino de Paris ... Die Richter, die ihn verurteilt haben, sagen: Jetzt haben wir den Beweis seiner Schuld! Und die Leute, die immer noch an seiner Schuld zweifeln, sagen mindestens: Man sieht, daß es »kein ernster Mensch« ist! Und ich, auf den Beweise, Verdachtsmomente und Illustrationsfakten einstürmen, sage: Mein Magen läßt sich überzeugen! Denn wer empfindliche Nerven hat, auf den wirkt nun einmal jede Wiener Sensation als nux vomica. Oder es ist, als ob einem der Finger, der den Schleier des Privatlebens gelüpft hat, in den Hals gesteckt würde. Oder gleich der ganze Arm der Gerechtigkeit. Das wird nicht so weiter gehen, meine Herren! Erst schlägt die Gerechtigkeit einem Angeklagten Beulen, und dann ist sie eifersüchtig, wenn er zu englischen Tänzerinnen flüchtet? Gewiß, keiner Büfettdame ist es gleichgültig, wenn der Gast in ein anderes Vergnügungslokal geht. Aber jene braucht darum noch nicht zu glauben, daß ihr die »Würzen« echappieren wird; und wenn sie es ernstlich fürchtet, wären ja 200.000 Kronen keine üble Abfindungssumme. Sie hat kleinliche Rache genommen. Herrn Dr. Beer wurde die Erlaubnis, in sein Schweizer Heim zu reisen, verweigert. In merkwürdiger Anmaßung einer, nicht sittenrichterlichen, nein, volksschullehrerhaften Gewalt war dem verurteilten Universitätsprofessor von der Staatsanwaltschaft bedeutet worden, daß die Bewilligung einer Reise von seinem »Benehmen« abhängen werde. Und da ein Besuch des Casino de Paris dem Professor Beer die gut österreichische Sittennote »minder entsprechend« eintrug, wurde der Urlaub verweigert. Nicht einmal das Recht, dem »Funktionär«, der solchen Beschluß mit solcher Begründung verkündete, ins Gesicht zu lachen, ward dem Angeklagten verstattet. Ich hätte es trotzdem getan. Noch nicht genug der Blamage, meine Herren? Haben erwachsene Gerichtsbeamte wirklich keine anderen Sorgen, als sich um den Zeitvertreib eines Privatmanns, der der Justiz doch nur für seine kriminellen Handlungen haftet, zu bekümmern? Schöpft auch der offizielle Geist schon aus den Schlammgründen des Wiener Tratsches? Wenn wir uns überhaupt das Recht anmaßen dürfen, uns für das Nachtleben des Professors Beer zu interessieren, so müssen wir die Frage, ob er nach seiner Verurteilung ins Casino de Paris gehen durfte, mit einem vernehmlichen Ja beantworten. Zunächst: Der Besuch des Casino de Paris nach dem Prozeß ist ein beinahe so haltloser Beweis für Kinderschändung wie die Aussagen der beiden Knaben im Prozeß. Aber auch sonst wirft er auf den Charakter des Besuchers kein wie immer geartetes Licht. Ich habe an jener Stätte schon einen General mit einer Cancantänzerin und eine Gräfin mit einem Nigger tanzen sehen. Man kann aber auch ganz unschuldig aus solchem Nachtlokal hervorgehen, beinahe so unschuldig wie aus einer Gerichtsverhandlung, in der man zu drei Monaten verurteilt wurde. Der Besuch des Casino de Paris kann weder für noch gegen den Charakter eines Menschen etwas beweisen. Nur Staatsanwälte, sofern sie nicht selbst das Casino de Paris besuchen, glauben das immer. Aber es ist ein altes Vorurteil der österreichischen Gerechtigkeit, daß sie selbst bei Hochverrat den Besuch von Nachtlokalen als erschwerend annimmt. Einigen wir uns also dahin, daß durch die Tat des Professors Beer zwar seine »Leumundsnote« — die ohnehin in Wien der Hausmeister anfertigt —, aber nicht sein Ruf gelitten hat. Was hätte er denn — Hand aufs Herz — sonst tun sollen? Durch den Verlauf des Schandprozesses dermaßen niedergeschmettert sein, daß ihn der Wunsch nach Weltflucht beherrschen mußte? Daß die moralische Läuterung nicht mehr durch das Bedürfnis nach Zerstreuung abgelöst werden konnte? Nein, so pompös sind die Folgezustände eines österreichischen Gerichtsurteils, und wäre es selbst ein gerechtes, nicht. So transzendental wirkt kein irdischer Feigl. Eine Verurteilung mag unangenehm sein, aber der peinliche Eindruck geht dem, der einem hundertjährigen Paragraphen erlag, mehr auf die Nerven als aufs Gemüt. Der Donner der Gerechtigkeit hat hierzulande längst seine Schrecken eingebüßt, und wer einmal das Landesgericht betrat, wird nicht so sehr die Schauer des jüngsten Tages, als den schauerlichen Pissoirgeruch der österreichischen Amtlichkeit nach Hause nehmen. Wenn einem ein naher Verwandter gestorben ist, so mag es Geschmacksfrage sein, ob er den Schmerz durch das Bedürfnis nach Sammlung oder nach Zertreuung stärker zu betonen wünscht. Der Philister hält sich an die Pietätsschablone, die das erste vorschreibt. Wen oder was aber soll ein Verurteilter, der sich mit Unrecht verurteilt wähnt, betrauern? Will irgendein Esel ernsthaft sagen, daß es nicht der »Würde des Gerichtssaals« entspricht, wenn einer ihn so rasch als möglich mit einem Vergnügungslokal zu vertauschen sucht? ...
Aber Herr Dr. Beer muß sich nicht nur Eingriffe in sein Nacht- und Familienleben gefallen lassen. Er scheint noch andere Taten, die er nach seiner Verurteilung begangen hat, büßen zu müssen. Meine Abhandlung über die »Kinderfreunde«. Sie haben ihm im Landesgericht auf den Kopf zu gesagt, daß er mich informiert habe. Da ein Angeklagter lügen darf, wird meine eigene Verantwortung glaubhafter sein. Ich erkläre also: Der Abhandlung, die ich verfaßt habe, steht Herr Professor Dr. Beer vollständig fern. Er hat mich mit keinem Wort, keiner Zeile informiert. Ich habe mit ihm weder mündlich noch schriftlich verkehrt, und er konnte auch nicht um meine Absicht wissen, einen Artikel über seine Sache zu schreiben, konnte keine Ahnung von Informationen haben, die mir von irgendeiner Seite zugeflossen sind. Ich hätte weder von dem Angeklagten selbst eine Aufklärung angenommen noch etwa dem begreiflicheren Bestreben, mich von einer publizistischen Äußerung abzubringen, entsprochen. Er konnte weder auf eine Publikation noch auf eine Unterlassung der ›Fackel‹ Einfluß üben. Dixi. Sollte es mir zu Ohren kommen, daß ein Gerichtsfunktionär auch jetzt noch Herrn Professor Beer für meinen Artikel verantwortlich macht, also meiner Erklärung mißtraut, so werde ich gegen ihn die Beleidigungsklage erheben, die sich sowohl auf den Vorwurf beeinflußter publizistischer Darstellung wie auf den der Unwahrhaftigkeit beziehen wird. Ich kenne Herrn Professor Beer kaum; habe ihn vor etwa vier Jahren in Gesellschaft gesehen, fast zehn Worte mit ihm gesprochen. Nach Publikation meiner Abhandlung traf ich ihn — warum soll ichs nicht gestehen? — in einem Nachtlokal. Durch einen Zufall, den ich tief beklage. Ich bedaure es im Interesse des Mannes, den ich schwer kompromittiert habe. Er hat mich auch diesmal nicht informiert, keines der Fakten, die ich zu seiner Prozeßsache etwa noch vorbringen könnte, mir mitgeteilt. Trotzdem war mir’s peinlich genug; aus taktischer Vorsicht hätte ich mich entfernen sollen, aber ich blieb sitzen, um sie nicht als philiströse Bedenklichkeit deuten zu lassen. Ich werde es nie wieder tun. Denn in dieser Stadt des Klatsches, der Personenneugier und der perspektivelosen Betrachtung alles Sichtbaren ist es einem Publizisten nicht möglich, mit einem Menschen, über den er geschrieben hat, an einem Tisch zu sitzen, ohne daß die Zeugin Öffentlichkeit dazwischentritt und »Aha!« sagt. Jetzt ist ihr alles klar. Die zwei sind Freunde. Vielleicht mehr als das. Für die nachbarschaftliche Phantasie, die sich die Vertretung einer Sache ohne Wahrung persönlicher Interessen nicht denken kann, ist es so gut wie ausgemacht, daß ich Päderast bin. Wenn ich für die Streichung der Religionsdelikte einträte, gälte ich für einen Gotteslästerer aus Neigung und Beruf. Vorläufig bin ich Päderast. Wäre ich’s wirklich, ich hätte das Bekenntnis als Motto vor meinen Artikel gesetzt, mich als ehrlicher Homosexueller gegen die Kompromittierung unserer Sache durch eine Kinderschändungsaffäre noch heftiger gewehrt. Denn ich bin der Ansicht, daß nur dann ein Sieg über den menschenmörderischen Paragraphen in Deutschland und Osterreich zu erringen sein wird, wenn die namhaftesten Homosexuellen sich öffentlich zu ihrem Verhängnis bekennen, wenn die »feudale Liste« — wie sie ein Berliner Machthaber fast neidvoll genannt hat — nicht von der Polizei, sondern von den Märtyrern selbst angelegt sein wird. Und ich würde keinen Augenblick zögern, mich zu homosexueller Anlage zu bekennen, wenn ich mir davon eine indirekte Wirkung gegen Gesetze verspräche, die es verwehren, sich zu einer homosexuellen Handlung zu bekennen. Aber der Kretinismus stellt ohne Rücksicht auf solche Bedenkenlosigkeit seine Diagnose. Mindestens aber sagt er, die zwei, der Publizist und der Angeklagte, seien Freunde; jener habe sich des Falles aus persönlicher Gefälligkeit angenommen, und sein Zurückhalten in der direkten Verteidigung sei ein zielbewußtes Manöver. So sprechen Wiener, die mich mit Herrn Dr. Beer an einem Tische gesehen haben. Wiener sind phantasielos. Sie sehen nur, daß man einmal beisammen ist, und denken nicht, daß man neunundneunzigmal nicht beisammen ist. Ich kam einst in einer Burgtheaterpremiere zufällig neben einem von der Preßgunst abhängigen Schriftsteller, den ich aus früherer Zeit kannte, zu sitzen. Ich ahnte Böses, bat den Ärmsten, seinem Selbsterhaltungstrieb freien Lauf zu lassen und mit mir nicht zu sprechen; ich nähm’s nicht übel, denn ich kennte den Horizont der Clique, die ihm die zufällige Nachbarschaft sicherlich übel nehmen würde. Er lachte mich aus. Im Zwischenakt zog sich der Ring enger zusammen. Es wurde bereits Gericht gehalten. Vor Schluß der Aufführung war das Urteil im Namen des Herrn Julius Bauer gesprochen: Keine Reklamenotiz für das nächste Stück des jungen Autors! Er appellierte vergebens an die Einsicht, daß er doch für die Nähe unserer Plätze nicht verantwortlich, daß überhaupt bei einer Burgtheaterpremiere die Auswahl der Sitzgelegenheiten nicht so groß sei und daß es selbst Herrn Julius Bauer passieren könne, neben mir zu sitzen. Nützte nichts. Keine Reklamenotiz! Das ist mein Wien, die Stadt der Lieder. Die Stadt der Verbindungen und Beziehungen. Ein Theaterparkett ist seine Welt. Daß ich Herrn Dr. Steger viel näher kannte als Herrn Dr. Beer, ehe ich meine Abhandlung schrieb, weiß es bloß nicht. Sonst wäre es verwirrt worden, wäre über das Problem gestolpert, wie man jemand so gut kennen und dennoch angreifen kann. Darüber kommt in Wien kein Mann weg. Und darüber erst recht nicht, daß eine publizistische Äußerung und späteres Zusammentreffen in einem Kaffeehaus nicht in ursächlichem Zusammenhang stehen sollen. Deshalb muß, wer auf Wiener Gehirne wirken will, die spezifische Tragfähigkeit von Wiener Gehirnen berücksichtigen. Deshalb war es ein Fehler, daß ich vor dem Dr. Beer nicht Reißaus genommen habe. Ich hätte lieber als Moralphilister dastehen, als seiner Sache schaden, lieber den Schein wecken sollen, daß ich den Verurteilten meide, als die Wirkung meines Eintretens abschwächen. Der Vorwurf, daß ich mich mit Herrn Dr. Beer öffentlich nicht sehen lassen wollte, wäre mir ernstlich nicht zu machen gewesen. Ich hatte mich ja in der ›Fackel‹, also gewiß öffentlich mit ihm gezeigt, und hätte mich daher nicht erst privat — in einem Lokal — mit ihm zeigen müssen. Die Wiener Auffassung hält allerdings das Eintreten in ein Lokal für öffentlich und das Eintreten in einer Zeitschrift für privat. Dem soll man Rechnung tragen. Ohne mich publizistisch zu regen, durfte ich — und ich hätte es am Ende getan — Herrn Dr. Beer in eine Theaterloge laden; vor oder nach einer Abhandlung über seine Affäre durfte ich es nicht. Und ich darf es erst wieder, darf auch wieder über seine Sache schreiben, nachdem ich diese Erklärung abgegeben habe ...
Im Landesgericht möchte man eine res judicata begraben. Aber das Gedächtnis ist nicht wo willfährig wie die Justiz. Es ist unglaublich, wie in dieser Verhandlung alles dem Vaterzorn pariert hat. Die Berichterstattung. Nun sagt jeder, der die Blätter gelesen hat, die Aussage des »zweiten Knaben« hat ihm das Genick gebrochen! Ein verblüffender Effekt. Der Knabe gab an, daß der Beschuldigte ein »besonderes Körpermerkmal« habe; dieser mußte es »zugeben«, zugeben also, daß der Knabe die Wahrheit gesprochen hatte, als er behauptete, der Beschuldigte habe sich vor ihm entkleidet. Welch schlagendes Argument! Jetzt war der Fuchs in der Falle, und der Gerichtshof, der bis dahin geschwankt hatte, wußte, was er vom Angeklagten zu halten hatte. So der Eindruck der Zeitungsleser. Die Verhandlungsteilnehmer, soweit sie nicht »Vertrauensmänner« sind, berichten das Gegenteil. Ein verblüffender Effekt war’s freilich. Aber die Aussage des »zweiten Knaben« habe — dem väterlicher Suggestion entrückten Hörer — nicht gezeigt, was man vom Angeklagten, sondern was man von der Aussage zu halten hatte. Der Angeklagte selbst fragte den Zeugen, zunächst ohne sich deutlicher auszudrücken, ob ihm sein »besonderes Körpermerkmal« aufgefallen sei, da er doch behaupte, ihn nackt gesehen zu haben. Der Zeuge verneinte die Frage ... Wen schlug das Argument? Wer saß in der Falle? So wird in Wien öffentliche Meinung gemacht. Der Reporter hat nur das »besondere Körpermerkmal« festgehalten und darüber ganz im Sinne väterlicher Wünsche verfügt. Es war ja der ausdrückliche Wunsch dieser Väter, daß mit den Leibern ihrer Kinder Mißbrauch getrieben worden sei; eine Rehabilitierung ihrer Sprossen wäre ihnen allzu schmerzlich gewesen.
Ein Blick in die Prozeßgeschichte, den mir der Zufall nachträglich gönnt, eröffnet Abgründe von väterlicher Pädagogik. Da sollte kein Kind — Knabe oder Mädchen —, von dem man zufällig erfahren hatte, daß es schon über die Geheimnisse der Zeugung Bescheid wußte, und von dem man annahm, daß es »bei Beers« verkehrt habe, geschont werden. Alle sollten sie vor den Untersuchungsrichter gestellt werden. Und gar erst die einmal photographierten! Die »Eingaben« — das Wort ist hier sowohl amtlich als psychologisch aufzufassen —, die an das Gericht geleitet wurden, sind erlesene Dokumente eines Triebs, in dem sich passiver Verfolgungswahn mit aktivem seltsam verbindet. Um eines erbärmlichen Nichts willen mußten zahllose Familien, die von ihren Kleinen das öffentliche Interesse abzuwenden wünschen, zitternd einer Vorladung gewärtig sein; um rankünösen Tratsches willen sollten bis dahin ahnungslose oder bloß halb unterrichtete Kinder einem hochnotpeinlichen Verhör unterzogen werden, von einem Untersuchungsrichter die letzte Weihe der Erfahrung empfangen. Eine »Eingabe« nach der andern. Eine Mutter drängt: Andere Kinder sollen auch verdorben werden! Gouvernanten, Bonnen, Institutsvorsteherinnen, Jourfreundinnen werden mobilisiert. Was hilft’s, daß eine schreibt: »Es ist mir ganz unmöglich, etwas öffentlich zu erklären und dafür einzustehen, was ich nur aus dem Munde eines Kindes, ohne persönliche Gegenwart und Beteiligung gehört habe. Das werden Sie, verehrte gnädige Frau, besser als mancher andere begreifen und einsehen«. Nein, sie begreift’s nicht. Schreibt immer wieder an den Untersuchungsrichter. Dann stellen die beiden Väter elf Anträge. In einem wird die Einvernehmung einer früheren Pensionatsleiterin verlangt; er lautet wörtlich: »Vor ungefähr fünf Jahren befand sich in ihrem Institute ein ungefähr 10jähriges Mädchen namens .., Tochter des Kaufmanns ... Dieses Kind wurde ausgeschlossen, weil es den in ebendemselben zarten Alter stehenden Mitschülerinnen die Vorgänge der menschlichen Zeugung und der menschlichen Geburt geschildert und mitgeteilt hat. Das war vor ungefähr fünf Jahren und gerade damals hat das Kind in dem Hause des Prof. Dr. Theodor Beer verkehrt ... Wir beantragen nunmehr, das Mädchen einvernehmen zu wollen, welches heute 15 Jahre alt ist und darüber aussagen soll, wieso es in dem zarten Alter von zehn Jahren bereits in den Besitz der erwähnten Kenntnisse gelangt ist.« Auf solch grausamen Wahnwitz ging das Gericht nicht ein. Es nahm offenbar an, daß zwar der Storch nicht mehr alle Kinder bringt, aber auch der Dr. Beer nicht allen Kindern die Aufklärung. Später stellte sich’s heraus, daß das erfahrene Mädchen zu jener Zeit, da ihm die Rätsel der Natur erschlossen wurden, allerdings »bei Beers« verkehrt hatte, fatalerweise aber — bei anderen Beers ... Ein weiterer Antrag enthält bloß eine Mahnung an den Untersuchungsrichter. Sie lautet: »Im allgemeinen erlauben wir uns darauf hinzuweisen, daß bei allen Einvernehmungen in Straf fällen wegen Sittlichkeitsdelikten die einvernommenen Personen sich einer natürlichen Zurückhaltung befleißen. Aus diesem Grunde dürfte sich eine möglichst eindringliche Befragung durch den k.k. Untersuchungsrichter empfehlen, dessen Aufgabe darin bestehen soll, diese Zurückhaltung und Scheu der Zeugen zu beseitigen. Dies gilt insbesondere bei der Befragung jugendlicher Zeugen und deren Eltern.« Herrn Dr. Steger drohen die Tatsachen auszugehen, aber nicht der Humor. Er unterstreicht es mit vielsagendem Behagen, daß der Verwalter der Schweizer Villa des Professors zufällig Krupp heißt, und verdächtigt das »rührendste Einvernehmen«, das zwischen einer Freundin des Hauses und dem Gattenpaar besteht. Wie jeder Regisseur, dem die Individualitäten fehlen, wirft er sich aufs »Milieu«, dessen Unsittlichkeit er dem Untersuchungsrichter dringend ans Herz legt. Und kann er die Kinderschändung nicht beweisen, so nimmt er mit einem Konkubinat vorlieb. Zum Schlüsse wird — was mag da vorgegangen sein? — gebeten, »vorläufig von der Einvernehmung der kleinen ... abzusehen«. Die hätte bezeugen sollen, daß sie einst genötigt war, den Beschuldigten ein »gemeines Schwein« zu nennen. Es war aber beim besten Willen nur festzustellen, daß sie ihn »ekelhaft« gefunden hatte ... Alle anderen Kindlein aber soll der Untersuchungsrichter zu sich kommen lassen. Die Mutter besteht auch auf der Einvernehmung mehrerer Erwachsenen. Eine Malerin werde darüber aussagen, daß die 12jährige X. eines Tages — es war ungefähr 1902 — zu ihr gesagt habe, die Photographien, die Dr. Beer von ihr angefertigt habe, könne sie nicht herzeigen, sie seien »gar zu unanständig«. Und die Erzieherin des Kindes könne diese Tatsache bestätigen. Persönlich einvernommen, wiederholt die Mutter, die Malerin habe ihr aus eigenem Antrieb mitgeteilt, daß Dr. Beer jene Kleine in einer Weise photographiert habe, die das Kind zur Äußerung veranlaßte, die Bilder seien »zu skandalös«. Die Malerin wird als Zeugin vernommen: »Einige Zeit nach diesem Besuche erzählte mir die Kleine, daß sie von Dr. Beer photographiert worden sei, sie meinte aber, daß sie von den Bildern nichts habe, sie könne sie niemand zeigen, denn sie seien zu schrecklich. Es ist mir nicht erinnerlich, daß damals das Wort ›skandalös‹ von dem Kinde gebraucht wurde.. Im Vorjahre traf ich meine Freundin (die antragstellende Mutter) und es kam das Gespräch auf die Affäre Beer. Es ist nun möglich, daß ich unter dem Eindrucke der Mitteilung der Frau Dr. F. statt des Wortes ›schrecklich‹ das Wort ›unanständig‹ gebraucht habe und so die Meinung hervorrief, als seien die Bilder in irgendeiner Weise unsittlich oder obszön. Ich habe mir jetzt die Photographien angesehen und habe gefunden, daß auf einem Bilde die Mutter des Mädchens mit der Kleinen photographiert ist, beide vollständig toilettiert in höchst dezenter Stellung, während das zweite Bild die Kleine allein zeigt, auch nach jeder Richtung hin tadellos. Allerdings ist die Aufnahme geradezu häßlich, und es ist mir nunmehr klar, daß der Ausdruck ›schrecklich‹, den das Mädchen gebraucht hat, lediglich ein ästhetisches Werturteil darstellen sollte, und daß ich diesen Ausdruck nach verhältnismäßig längerer Zeit unter dem Eindrucke der Erzählung der Frau Dr. F. schlecht gedeutet habe.« Die Erzieherin wird als Zeugin vernommen: »Ich habe die Bilder gesehen und gebe mit aller Bestimmtheit an, daß sie weder einen unkeuschen noch einen unanständigen Eindruck machen; ästhetisch wirken sie nicht, sie sind mißraten und darauf dürfte die Äußerung der Kleinen zu beziehen sein, wenn sie sagte, die Bilder seien skandalös.. Ich habe die Photographien gesehen, habe auch mit Frau Dr. F. über die Sache gesprochen, es war jedoch nicht davon die Rede, daß die Photographien irgendwie unanständig seien, zum mindesten sollte kein moralisches, sondern lediglich ein ästhetisches Urteil abgegeben werden.« Aus dem kreißenden Chaos von Beweisanträgen wurden schließlich diese beiden Zeugenaussagen geboren. Sie bewiesen, daß »skandalös« auf deutsch »schrecklich« heißt. Daß man bestrebt gewesen war, aus einem »ekelhaften« Menschen ein »gemeines Schwein« zu machen. Aber auf halbverstandene Kinderworte ward eine Anklage aufgebaut, die zur Vernichtung einer Existenz führen sollte ...
Beginnt man allmählich zu begreifen, was man da getan hat? Ich ließ durchblicken, daß man die Strafe in ihrer — trotz den harten Folgen — weit unter das gesetzliche Maß reichenden Milde »als ein Schuldbekenntnis des Gerichts auffassen«, daß man vermuten könnte, die Richter hätten »in jener einflußvergifteten Stimmung, die ein Opfer verlangte, den Ausweg zahmer Verurteilung gesucht«. Es besteht kein Zweifel mehr, daß hier Justizpolitik getrieben worden ist. Und man ist bei Gericht über die »Scherereien« enttäuscht, die der Angeklagte den Richtern durch seine Nichtigkeitsbeschwerde macht; man hatte gehofft, er »werde sich mit der milden Strafe zufrieden geben«. Die Feder will’s nicht niederschreiben, daß solche Stimmung die Gerechtigkeit beherrscht. Aber es ist wirklich so. Zwischen den »Scherereien« zweier Gegner sucht man mit einer dreimonatlichen Kerkerstrafe durchzukommen. Manchmal glückt’s. Manchmal erscheint ein Artikel in der ›Fackel‹. Daß er die Wahrheit sagte, verhehlt sich heute kein Richter mehr. Es gibt noch Richter in Österreich, die nachträglich zugeben, daß sie schlecht gerichtet haben. Aber wir sind in Wien. Der Racheanwalt, der den Prozeß provoziert hat, thront in sozialem Ansehen, der Arzt Herzfeld, der Erzählungen einer Sterbenden verraten hat, die durch ihre eigenen Briefe schlagend widerlegt werden, bleibt Universitätsprofessor, und der Verurteilte, gegen den Kindermund zeugte und onanierende Hände sich zum Schwur erhoben, muß den Titel ablegen. Aber der Fall stinkt weiter. Möge sich der Oberste Gerichtshof beeilen. Vielleicht könnte hier doch ein Unrecht geschehen sein. Möge er prüfen, ob nicht wieder einmal ein Vorurteil gefällt worden ist. Ich bin ja gewiß der Meinung, daß der alte Justizkrempel nicht tief genug verachtet werden kann, halte gewiß Lynchjustiz für kulturvoller als die Vollstreckung hundertjähriger Paragraphenweisheit. Aber Richter dürfen, solange es Gesetze gibt, nicht nach den ungeschriebenen Satzungen beleidigter Familienwünsche richten. Und die kriminelle Schuld eines Angeklagten — heiße er nun Tamara v. Hervay oder Theodor Beer — muß bewiesen sein, damit uns nicht der Glaube beunruhige, die Verurteilung sei wegen »unsympathischen Wesens« erfolgt.
Vgl.: Die Fackel, Nr. 189, VII. Jahr
Wien, 30. November 1905.