Theatermoral
Mai 1905
Wien ist die ereignisvollste Stadt der Welt. Ich denke hier nicht an Alltagsereignisse, wie sie auch in anderen Städten sich abspielen können: eine Raubmordverhandlung, ein politischer Korruptionsprozeß. Ich habe die Besonderheit jener Geschehnisse, die in Wien zu Ereignissen werden, im Auge. Es gibt nichts, was hier nicht tauglich wäre, in einem unvorhergesehenen Moment Mittelpunkt zu werden. Wer sich einen Namen machen will, braucht sich nur auf der Ringstraße die Schuhe putzen zu lassen; wer aber allzugroßes Aufsehen fürchtet, wird es vermeiden, im Schaufenster eines Wiener Restaurants Austern zu essen. Wo ich bin und was ich tu’, der gute Wiener schaut mir zu. Aber selbst jene Mitbürger, denen nötigenfalls die Phantasie Schuhputzen und Austernessen vergegenwärtigen könnte, werden es sich schon nicht mehr vorstellen können, wie das ist, wenn eine Naive vom Deutschen Volkstheater einen Hausfreund küßt. Hier müssen darum auch die Zeitungsberichte nachhelfen. Was aber gelten dem Leser dann noch die »russischen Wirren« neben der Klarheit, die der Eifer der Gerichtssaalberichterstatter über den »Fall Brenneis« schafft! Nach den neckischen Andeutungen über »brennheiße« Liebe und »brennendes Eis« des Herzens die plötzliche Enthüllung, daß eine Naive von einem »Verehrer ihrer Kunst« — wie die Schmockdiskretion sich gern ausdrückt — Geschenke genommen, daß sie Küsse gegeben und »das Recht auf Küssen verteidigt« hat: die Wiener Bevölkerung, diese große Kulissenschnüfflerin, lernt nicht aus.
Schon die Voraussetzungen der Affäre, die alle Federn in Bewegung setzt, tragen das Gepräge jener nur dem Wiener Gehirnweichbild eigentümlichen »Anschauung«. Eine Ehefrau beargwöhnt den Ehemann: eine Tatsache aus dem Familienleben, die, wie man glauben sollte, höchstens die Nachbarn zu bekümmern hat. Der Ehemann »erweist einer Schauspielerin Aufmerksamkeiten«: eine Tatsache aus dem Privatleben zweier Menschen, die, wie man glauben sollte, höchstens die Bewohner zweier Gassen beschäftigen kann. Jetzt kommt ein Advokat hinzu und die Klage wegen »ehebruchsähnlicher Handlungen« oder wie das Vergnügen sonst heißt, ist fertig. Die beiläufige Kenntnis der Eigenart des Wiener Lebens mit dem Klatschbedürfnis seiner Menschen und mit der Willfährigkeit seiner Journalisten müßte vor einem solchen Prozeß, auch wenn die Verurteilung der »Ehestörerin« sicher wäre, warnen. Was bis zur öffentlichen Austragung der Sache bloß die Angelegenheit der Nachbarn, Hausmeister und Milchfrauen war, schwillt dank einer Reportage, die keinen Kuß ungehört verhallen läßt, zum Groß-Wiener Ereignis an mit allen Folgeübeln von Interviews und Erklärungen. Ein vorsichtiger Klageanwalt müßte den schrecklichen Titel der Gerichtssaalberichte: »Küssen ist keine Sund’« in seinen Träumen voraussehen und der gekränkten Gattin von der Flucht in die Öffentlichkeit, auf die heute die gerichtliche Erörterung der privatesten Dinge hinausläuft, abraten. Da es nicht geschieht, schlägt das Kotmeer der Wiener Dummheit über den ahnungslosen Häuptern der Beteiligten zusammen. Dann teilt es sich wieder: Die das Recht auf Küssen und die das Recht auf Eifersucht verteidigen, kämpfen in der Wiener Publizistik mit gleich heiligem Ernst für ihre Überzeugung. Ein Blatt erklärt »die Integrität der Schauspielerin für zweifellos«, während ein anderes aus der Tatsache, daß der Verehrer öfter Essen »und sogar Kaviar« ins Haus kommen ließ, eine schwere Anklage schmiedet.
Aber die kleine Dame, die wohl nicht das Talent zu einem anstößigen Privatleben hat und gewiß nicht den Mut hätte, sich dazu zu bekennen, sie, die sicher noch »sozialer« denkt, als die dummdreisten Sittenrichter ihres Standes, hat, um der Strafe zu entgehen, vor Gericht ihr Verhalten mit den freieren Sitten der Theatermenschheit entschuldigt. Das wäre, wenn man ihr den mutlosen Verzicht auf individuelle Rechte zum Vorwurf machen wollte, tadelnswert. Ihre Unwahrhaftigkeit lag darin, daß sie zu ihrer Rechtfertigung sich erst auf eine Konvention, auf die Konvention der Freiheit, berufen zu müssen glaubte. Aber nur der kindischesten Heuchelei konnte es einfallen, die Konvention in Abrede zu stellen und gegen die kleine Dame, die sich nicht im Fühlen, aber in der Raison an die Wahrheit gehalten hat, Protestkundgebungen zu inszenieren. Die Künstler sind immer empört, wenn man sagt, daß sie vor den Bürgern etwas voraus haben. Bei demselben Gericht, vor dem die »küssende Naive« — der Ausdruck bedeutet jetzt eine fixe Vorstellung im Reportergehirn — sich auf die Theatersitte berief, hat ein ehemaliger Schauspieler des Deutschen Volkstheaters einen älteren Kollegen wegen Beleidigung verklagt. Direktor und Regisseur bezeugten die Theatersitte, die es dem Schauspieler erlaube, den jüngeren Kollegen in rüden Worten zurechtzuweisen. Aber daß es üblich sei, jüngeren Kolleginnen zarter entgegenzukommen, stellen sie entrüstet in Abrede. In der Presse werden alle Soziologen losgelassen. Einer der gefährlichsten meint, die Betonung einer besonderen Schauspielermoral werfe uns wieder in jene Zeiten zurück, »wo in den Dörfern der warnende Ruf erscholl: ›Die Wäsche von den Zäunen, die Komödianten kommen!‹« Als ob die Freiheit, zu küssen, gleichbedeutend wäre mit der Freiheit, zu stehlen. Aber tatsächlich ist heute, wenn Schauspielerinnen küssen wollen, bloß der Warnungsruf berechtigt: Die Bettwäsche von den Zäunen, die Journalisten kommen!
So eingefressen ist das Bedürfnis der Menschen, in Dingen der Sexualität anders zu sagen als zu fühlen, daß sie jede Gewährung einer Freiheit, statt sie in diesem Jammerdasein mit heißem Dank zu empfangen, als einen Angriff auf die »Ehre« zurückweisen. Welch ein Unglück wäre es, wenn wirklich zurecht bestände, daß im Theatergetriebe freiere Formen herrschen, daß ein Kuß dort einen Gruß gilt! Geben Theaterdirektoren, die sich zur Annahme eines Stückes nicht kontraktlich verpflichten wollen, dem Autor ihr Ehrenwort, so muß auch die Hingabe einer Schauspielerin noch kein »Verhältnis« bedeuten. Aber da alle Menschen Komödie spielen, so ist es immerhin erfreulich, daß die Schauspieler es mit mehr Talent tun. »Bei den Kollegen«, heißt es, sei »die Indignation über das Verhalten der angeklagten Schauspielerin vor Gericht zu sehr heftigem Ausdruck gekommen«. Eine muntere Liebhaberin will »eine korporative Stellungnahme« anregen, ein Baritonist, der kein Lord ist, »betrachtet seine Kolleginnen als Ladys«, ein Tenorist konzediert — wie gnädig! — die Gewohnheit, »sich von einer hübschen Kollegin ein Busserl abzuringen«, als Jux, aber nicht als allgemeinen Brauch, einem Operettendirektor, der sein Theater als moralische Anstalt betrachtet, ist »eine solche Unverschämtheit noch nicht vorgekommen«, und sein aus Budapest eingewanderter Kompagnon und dessen Gattin, die bloß um als gute Hausfrau Stoff zu sparen, in stark dekolletiertem Zustand auftritt, sind »erstaunt darüber, daß man über eine solche Frage überhaupt noch diskutiere«. Einzig eine Soubrette erkühnt sich, es auszusprechen: Wir Schauspielerinnen wollen und sollen nicht mit dem gewöhnlichen Maßstab gemessen werden. Eine Theaterdame würde sich lächerlich machen, wenn sie außerhalb der Bühne, auf der sie vielleicht eine Rolle gespielt hat, die auf des Messers Schneide steht, die Naive und Unerfahrene spielen wollte. Es sei ja übrigens eine bekannte Tatsache, daß in Schauspielerkreisen ein freierer Ton im Verkehr herrscht als sonst wo. Man nehme das als etwas Selbstverständliches hin. Die meisten Kollegen duzen sich auf der Bühne, und sie »finde durchaus nichts daran, daß eine Schauspielerin mit einem ihr bekannten Herrn per du ist oder daß sie ihn küßt ...«
Wenn die Herren Direktoren, Regisseure, Kollegen und vielleicht auch noch die Herren Theateragenten Lust haben, sich an dem Protest gegen die Statuierung freierer Theatersitten zu beteiligen, die sie selbst geschaffen haben und von denen sie profitieren, mögen sie’s versuchen und zum frechen Einfall der Berliner Tugendwächter, die einen Kranz vom Grabe der Jenny Groß nahmen, ein Pendant schaffen. Dann werden sie sich’s aber auch gefallen lassen müssen, daß man von jedem Übergriff, den sie sich gegen Kolleginnen erlauben, von jeder Willensbeugung, die sie sich gegen Abhängige zuschulden kommen lassen, von jedem Verlangen, dessen Erfüllung sie als ein natürliches Vorrecht ihrer Stellung und ihrer Männlichkeit betrachten, in der Öffentlichkeit Kenntnis nimmt. Und dann könnte das gemeine Interesse, das heute die Bevölkerung einer Großstadt an Kulissenaffären bekundet, zur sittlichen Forderung geadelt werden.
Vgl.: Die Fackel, Nr. 180-181, VII. Jahr
Wien, 6. Mai 1905.