Der Fall Riehl
November 1906
Maudit soit à jamais le funeste imbécile
Qui voulut le premier, dans sa stupidité,
S’éprenant d’un problème insoluble et stérile
Aux choses de l’amour joindre l’honnêteté.
Charles Baudelaire.
Ich aber sage euch, die Welt der Christen und anderen Juden hat sich mit der »Sünde« vollgefressen. Denn es bedarf nur des geringsten Anstoßes, um ein moralisches Speikonzert zu provozieren, das uns größere Übelkeit verursacht, als der Anblick sündhaften Tuns eurem von überschüssiger Moralsäure affizierten Magen. Wo aber könnte die Heuchelei besser gedeihen, als in einem beständig von Sensationen umwitterten Klima? Die verruchte Mischung von Sittlichkeit und Neugierde, die dem Wiener eingeboren ist, rückt ihm die dürftigsten Sexualbegebenheiten in ereignisvolle Perspektive und nährt ein Büßerpathos, das nach einer Nacht, in der zwei Menschen von der Norm der Geschlechtsfreuden gewichen sind, den jüngsten Tag angebrochen wähnt. Dieses Leben ist so arm an Orgien geworden, daß wir, Phäaken um jeden Preis, sie durch moralische Völlerei ersetzen müssen, wenn eine Prinzessin mit ihrem Stallmeister durchgeht, ein Universitätsprofessor Knaben photographiert, oder gar ein Bordellbesucher mit der Peitsche sich und seinem Opfer ein Vergnügen schafft. Wie aber soll Entrüstung zu ihren Orgien kommen, wenn die Sünde so schlau ist, die ihren in der Verschwiegenheit eines Alkovens zu feiern? Nun, so laßt uns wieder zu einer alten Kupplerin gehen: Sie heißt Justiz und wird uns in geheimer Verhandlung die öffentliche Meinung als Jungfrau vorstellen. Welch’ eine Jungfrau! In Lumpen gekleidet, »lausig und mit schlechten Zähnen«, — wahrlich, Tante Riehl, die die schmutzigste Debütantin in vierzehn Tagen salonfähig machte, hätte sie von ihrer Schwelle gewiesen. Aber die Justiz weiß, was für Spezialitäten sie der Kundschaft schuldet, und macht in geschlossenem Hause die Gelegenheit zu Sensationen, wie sie in ähnlich raffinierter Art eben nur die Unschuld der Wiener Familienpresse dem ehrbaren Geschmack der Wiener Bevölkerung bieten kann.
... In das nach dem Zustand ihrer Straßen und ihrer Gehirne genannte Weichbild dieser Stadt klatscht eine »Affäre«. Die Besitzerin eines konzessionierten Bordells ist der wirtschaftlichen und gesundheitlichen Ausbeutung ihrer Mädchen beschuldigt. Eines Mißbrauchs, den wohl die staatlichen Wächter der Institution entdeckt und dem Gericht überliefert haben? Anderorts ein unbeträchtlicher Fall, wie jeder Übergriff, der die Rechtsbeziehung zwischen Dienstgebern und Dienstnehmern stört. Beträchtlicher, wenn die Aufsichtsorgane — Gewerbeinspektoren oder Polizisten — die Ungebühr, zu deren Beseitigung sie gerufen waren, festigten und von der Willkür Zinsen nahmen. Haben sie die Autorität mißbraucht, um den Mißbrauch zu autorisieren, haben sie einmal verzichtet, Providenz zu spielen, um Provision zu empfangen — spuckt ihnen ins Gesicht! Denn allzu schmerzlich haben sie euch über euer Unentbehrlichstes, den Autoritätsglauben, hinweggeholfen und einem angemaßten Militärrock, dessen Geschichte neulich die Wahnvorstellung einer Nation ernüchtert hat, das Pendant einer abgelegten Polizeihose geschaffen. Eine Affäre amtlicher Korruption also, öffentlichen Aufsehens würdig. Würdig der Empörung, doch auch einer zweckbewußten Erledigung, die die zweckvergessene Aufsicht schwerer zu treffen hätte, als das Raubsystem einer konzessionierten, privilegierten und mehrfach ausgezeichneten Kupplerin. Aber das »Aufsehen«, das in dieser trostlosen Stadt Kunst und Leben nach ihren stofflichen Werten würdigt, hat vor dem Polizeiskandal ohnegleichen und vor der besonderen Schuld einer Angeklagten den Pikanterien der Bordellsphäre den Vorzug gegeben. Und je nach Geschmack, lärmt Entrüstung oder wispert Neugierde, webt in allen Fällen Erstaunen um die plötzlich entdeckte Tatsache, daß der Frauenleib, dessen Käuflichkeit der Idiotenglaube doch selbst als eine »soziale« Einrichtung beklagt, in assortierten Lagern feilgehalten wird.
Soweit das Verschulden der Kupplerin und soweit das Verschulden der Amtsorgane reicht, verweist der erste Blick die Angelegenheit in das Sorgengebiet der Verwaltung. Zu krimineller Geltung erwächst sie, wenn hier der Mißbrauch der Amtsgewalt, dort Wucher und sanitäre Übelwirtschaft einer vernünftigen Anklagebehörde einleuchten. Aber für den Mißbrauch der Amtsgewalt wird die Öffentlichkeit mit einer Ehrenerklärung des Polizeipräsidenten abgespeist, die er seinen viertausend Bediensteten ausstellt, von denen nur drei auf Abwege geraten seien, und mit einer stammelnden Bitte um Nachsicht, die besagen will, daß die Beamten des Präsidialbureaus, des Ökonomiereferats, des Verkehrsamtes und des Paßbureaus dem Einfluß der Madame Riehl nicht erlegen sind, und auch mit der berühmten Weisung »Mädeln, verführts mir den dicken Kommissär, aber nehmts kein Geld von ihm« nicht gemeint waren. Als ob die Indolenz, die drei amtlich und moralisch subalterne Individuen im Gehege der Sittlichkeit pürschen läßt, nicht sträflicher wäre, als die Toleranz dieser munteren Bordellrevisoren! Wien wird sich beruhigen, wenn eine Kupplerin eingesperrt und ein Polizist davongejagt ist, es wird wieder in den besten aller Halbwelten leben und das Institut, dem Herr Piss angehörte, für eine wahre Bedürfnisanstalt halten. Die Begründung des Urteils, das Frau Riehl für dreieinhalb Jahre ins Gefängnis schickt, verrät, worüber sich die Offiziellen in einem Falle, der uns empfindlicher enthüllt als die Nachbarn ihr Köpenick, Gedanken machen. Man hätte zumindest erwartet, die nachgewiesene Polizeigunst als mildernden Umstand zitiert zu finden. Gefehlt! Die Dame Riehl mußte sich ausdrücklich mit dem Vorwurf belasten lassen, sie habe die Aufgabe der Aufsichtsbehörde »erschwert«, und nicht einmal zu ihren Gunsten, geschweige denn zu Ungunsten der Polizei, wurde angenommen, daß diese die Aufgabe der Riehl erleichtert habe. Es ist recht uninteressant, ob’s in einer Großstadt eine Ausbeuterin mehr oder weniger gibt. Aber wenn die Polizei schon nicht als Angeklagte im Gerichtssaal saß, so hätte wenigstens eine Amtshandlung als Milderungsgrund für die Schuld einer Räuberin der Kulturgeschichte überliefert werden sollen. Dabei wäre es gleichgültig gewesen, ob man der Polizei eher Vorschubleistung für die gewalttätige Einschränkung der persönlichen Freiheit, oder für die wucherische Ausbeutung der Bordellinsassinnen zugetraut hätte. Die Anklage gegen Regine Riehl hätte jedenfalls weniger nach Konstruktion gerochen, wenn man sich nach dem Beispiel von Laibach — auch dort war die Polizei an dem Bordellwesen hervorragend interessiert — von allem Anfang an auf die Wahrnehmung des wucherischen Tatbestandes verlegt hätte. Gegen die persönliche Freiheit und die Gesundheit ihrer Mädchen hat sich die Riehl gewiß nicht in so greifbarer Weise vergangen, wie gegen deren wirtschaftliche Sicherheit. Es ist ja allen Dankes wert, daß ein Gerichtshof einmal die Polizei über die Strafgesetzwidrigkeit ihrer Anschauungen vom Bordellwesen belehrt hat. Regine Riehl hat ein Übriges getan, da sie die polizeiliche Anerkennung sich erkaufte. Sie hat sie als die konsequente Praktikerin jener Anschauungen redlich verdient und hätte, wäre sie nicht so ungeschickt gewesen, auch die Unschuld etlicher Beamten zu prostituieren, mit Erfolg den »guten Glauben« für sich geltend machen können. Die Polizei handelt als Exekutive der bürgerlichen Moral, wenn sie den Gassenstrich durch die Zucht eines geschlossenen Hauses verdrängen will, dessen Besitzerin sie das »Halten von Prostituierten« unter Kautelen gestattet, unter denen selbst das »Halten von wilden Tieren« erlaubt wäre. Und die Riehl hat als Exekutive der polizeilichen Raison gehandelt, wenn sie jene Fenstergitter an den Käfigen anbringen ließ, über die sich der Staatsanwalt entsetzt, wenn sie jene »Kaserne« schuf, über die sich nur ein Gerichtshof ereifern kann, dem das Schlagwort »Kasernierung der Prostitution« fremd ist oder etwas anderes zu bedeuten scheint als »Einschränkung der persönlichen Freiheit«. Der Bordellportier hat als Zeuge angegeben, daß er den besondern Auftrag von der Riehl bekommen hatte, das Haus versperrt zu halten, »damit kein Mädchen hinausgehe«: so war der Freiheitsraub erwiesen. Aber der Bordellportier hat auch angegeben, daß dieser Auftrag erfolgt sei, weil »sonst die Riehl einen Anstand mit der Polizei hätte«: so war die Mitschuld der Polizei erwiesen. Und in dem Augenblick, da ein Beamter vor Gericht die denkwürdige Erklärung abgab, es sei nicht Sache der Polizei, die Prostituierten gegen die Kupplerinnen, sondern Sache der Polizei sei es, das Publikum gegen die Prostituierten zu schützen, mußte es klar sein, daß noch nie eine Übeltäterin in besserem Glauben gehandelt hat, als Regine Riehl. Bedeutungsvoll bleibt ja das judizielle Bestreben, einem behördlichen System den Riegel vorzuschieben, das die Vorschiebung von Riegeln an den Wohnungstüren der Prostituierten begünstigt hat. Viel plastischer aber und des letzten Scheins einer bona fides entkleidet, rückt das Moment wucherischer Ausbeutung in die kriminelle Betrachtung. Mag auch das bürgerliche Gesetzbuch, das jedem Journalisten die Klagbarkeit einer Bestechungssumme garantiert, jedem Lumpen es ermöglichen, eine Prostituierte um den bedungenen Lohn zu prellen, so kann doch kein Zweifel darüber bestehen, daß der wucherische Betrug, den die Kupplerin an der Prostituierten verübt, unter strafrechtliche Sanktion falle. Sonst wäre es ja auch erlaubt, den »Schandlohn« — je nach Geschmack und dem Grade der sittlichen Entrüstung — zu stehlen, zu veruntreuen, zu rauben. Wäre freilich unser Strafrecht nicht so hirnverkleistert, im Verbot der Gelegenheitsmacherei eine fabelhafte »Sittlichkeit« zu schützen, nie wären jene Zustände geschaffen worden, die die blutigste Ausbeutung zur typischen Begleiterscheinung der harmlosesten Kuppelei machen. Eine Erkenntnis, die sich täglich bestätigt: Das Kuppeleiverbot hat die Kuppelei mit dem Wucher verkuppelt, hat wie jedes Sexualgesetz Übleres erzeugt, als es verhindern wollte. Ein Sexualgesetz, das, anstatt ausschließlich die freie Willensbestimmung, die Gesundheit und die ökonomische Sicherheit zu hüten, der Moral opfert, setzt Prämien auf die Preisgabe aller Lebensgüter. Es ist die ausbündigste Narrheit von der Welt, um jenes lästigen Idols willen die Kuppelei als solche zu verfolgen: die gewerbsmäßige Vermittlung oder Vermietung einer Gelegenheit an mündige und willige Menschen. Ihre Verfolgung rechtfertigt jeden Preisaufschlag, mit dem die Kupplerin ihr Risiko bewertet; ist die wahre Unterhändlerin des Wuchers, während die Kupplerin bloß den Genuß vermittelt. (Daß der § 512 der Punkt ist, an dem die einzig mögliche Reform der Sittenpolizei anzusetzen hätte, hat Graf Taaffe, der einzig mögliche Ministerpräsident, den Österreich je gehabt hat, und ein hervorragender Kenner des Gassenstrichs, erkannt. Eine Äußerung, die er vor etwa zwanzig Jahren im Budgetausschuß gegenüber dem Verlangen nach einer »Regelung der Prostitution« getan hat, wird jetzt bekannt: »Schaffen sie mir erst diesen Paragraphen vom Halse! Solange er besteht, habe ich nicht Lust, mich zum Mitschuldigen zu machen.«) Wie oft soll es Kriminalistenhirnen noch eingetrichtert werden: Sowie die Strafdrohung, die sich der homosexuellen Tat an die Fersen heftet, der Erpressung hilft, so fördert die Verfolgung der Kuppelei die Ausbeutung. Solange das erlaubte Unverständnis unserer Gesetzgeber den Liebesverkehr ein »unerlaubtes Verständnis« nennt, gewährt es bloß »Unterschleif« der Niedertracht. Sexualjustiz heißt jene besondere Gefälligkeit der Behörde, die den Schlafzimmerschlüssel einem Verbrecher ausliefert. Schraubt die Menschennatur unter den Strafparagraphen, und das Verbrechen kommt zum Vorschein! Und wer außer jenen Tröpfen, die sich den Geschlechtsverkehr bloß auf ethischer Grundlage und nicht auf einem Divan vorstellen können, leugnet, daß auch die Kuppelei einem in der Weibsnatur vorrätigen Trieb entspreche? Als Fortsetzung der Prostitution ist sie zunächst ein psychischer und dann erst ein sozialer Zustand. Wie sollte sie aber, solange sie bloß den für den Geschlechtsverkehr nun einmal unentbehrlichen Ort der Handlung beistellt, ein crimen sein? Wie will es die Ethik mit Naturtrieben, wie die Kriminalistik mit sozialen Notwendigkeiten aufnehmen? Natürlich wird noch häufiger »Not« die alten Weiber zur Kuppelei, als die jungen zur Prostitution treiben, und innerer Beruf häufiger die jungen zur Prostitution, als die alten zur Kuppelei. Aber sollte derselbe Staat, der die Witwen seiner Beamten hungern läßt, sie strafen dürfen, wenn sie ein Zimmer für Stunden vermieten? Und sollte bloß Armut und nicht auch jene Freude an der Sache, die die abgestorbene Sinnlichkeit des alternden Weibes immer noch aufbringt, ein unwiderstehlicher Zwang sein? Alle Sozialpolitiker, die da wähnen, daß sich das Genußleben nach der Statistik richte, scheinen nur die Klosettfrauen, die die soziale Fortsetzung der Prostitution, und nicht auch die Kupplerinnen, die ihre seelische Fortsetzung bilden, gezählt zu haben.
Unter dem Bannfluch der christlichen Moral wird der außereheliche Geschlechtsverkehr zur Sünde, unter dem Damoklesschwert der bürgerlichen Verachtung wird die Prostitution zum »notwendigen Übel« und unter dem Richtbeil des Gesetzes wird die Kuppelei zum Verbrechen. Sie macht ihre Kunden zu »Opfern« und beutet sie — Fall Riehl — zuweilen auch mehr aus, als unbedingt notwendig ist. Das Weib, das seinen Körper verkauft, und die Kupplerin, die sich mit dem berechtigten Lohn für die Bettmiete begnügt, stehen außerhalb der Gesellschaft. Aber im Innersten dieses Asyls haust die räuberische Bordellwirtin, die die Meinung der bürgerlichen Wohlanständigkeit über die Prostitution mit eherner Härte zum Ausdruck bringt! Als jener kleine Journalist namens Bader durch seine Enthüllungen die Polizei aus dem Beischlaf weckte und dem illustrierten Wiener Extrablatt an einem Tage etwa so viel zu verdienen gab, wie die Riehl bis dahin in einem Monat verdient hatte, zweifelte ich, ob es der Weg der Befreiung sei, wenn sich die armen Mädchen aus der Nachtredaktion der Riehl in ein Bordell der öffentlichen Meinung flüchten, und schrieb: »Die wucherische Bordellwirtin ist ein Hilfsorgan der Behörde, ein Exekutivorgan der Sittlichkeit. Die Einrichtung der Freudenhäuser mit all ihrem Mißbrauch der wirtschaftlichen und körperlichen Sicherheit sehen wir tiefer in der Gesellschaftsordnung wurzeln als die Einrichtung der Zeitungsbureaus mit ihrem Mißbrauch der wirtschaftlichen und geistigen Sicherheit. Die Prostituierten der öffentlichen Meinung müßten sich von den Verlegern nicht so schamlos ausbeuten lassen, wie es täglich geschieht. Aber daß die Huren des Leibes von den Kupplerinnen mißhandelt und begaunert werden, verlangt jene liebe Weltordnung, die die Freudengabe mit dem Brandmal der Verachtung belohnt. Der Weizen wucherischer Erpressung blüht, wenn Staat und Gesellschaft den Geschlechtsverkehr in das dunkle Gebiet anrüchiger Verschwiegenheit weisen. Und nur die Gehirnweichheit kann sich über die Abschlachtung einer Prostitution entrüsten, die sie selbst wehrlos dem Henker ans Messer geliefert hat. Humane Bordellbesitzerinnen wären ein Auswurf der bürgerlichen Gesellschaft ...«
Die abscheulichste Feststellung in diesem ganzen Gerichtsverfahren war wohl die, daß die Mädchen Bedenken getragen haben, ihre Klagen über den Mangel an Luft und Freiheit dem untersuchenden Polizeiarzt vorzubringen, »aus Furcht, er könnte es der Frau wiedererzählen«. Welche Schande für dieses rückständige Österreich, daß es auch in Fragen der Bordellhygiene zum Bader statt zum Arzt gehen muß! Welche Schmach, daß erst eine Presse, die gewohnt ist, an den sozialen Übeln zu schmarotzen und die gewiß auch in der Bordellsphäre auf die kostenfreie Zuwendung von Rezensionsexemplaren Wert legt, die Polizei, die die Damen des Hauses Riehl als Pflichtexemplare annahm, zur Wahrung öffentlichter Interessen aufgepeitscht hat! Und dabei war das ›Extrablatt‹ so gut das polizeioffiziöse Journal, wie das Haus Riehl das polizeioffiziöse Bordell. Man müßte die Aussprüche, die in der Verhandlung über die k.k. Sittenwächter getan, ihnen in den Mund gelegt, oder aus ihrem Munde unmittelbar vernommen wurden, als Perlenschnur aneinanderreihen. Und an das eine Ende müßte die Weisung »Mädeln, verführts mir den dicken Kommissär«, an das andere die amtliche Anerkennung: »Schauns her, was die Riehl in vierzehn Tagen aus dem Madel gemacht hat!« Dazwischen Erledigungen von Beschwerden, wie: »Die Riehl macht immer solche G’schichten!« oder »Mit solchen Kleinigkeiten können wir uns nicht abgeben!« oder »Da kamma nix machen!« oder »Gehns z’haus und machens Ihnen nix draus!« In die Mitte aber die außeramtliche »Erhebung«, was ein Mädchen gegen einen Polizeikollegen beim Untersuchungsrichter ausgesagt habe, und die außeramtliche Avisierung der Riehl, daß eine Anzeige gegen sie erstattet sei. Vertrauen gegen Vertrauen: »Kusch«, sagte die Riehl zu einem widerspenstigen Mädchen, das sich nicht vollständig ausrauben lassen wollte, »kusch, sonst lasse ich einen Wachmann holen!« In ein besonderes Medaillon gehört die Visitkarte des Regierungsrates, die er der Riehl mit den Worten überreichte: »Wenn Sie einmal etwas brauchen sollten, kommen Sie zu mir!« Und als Anhängsel wäre die Versicherung zu tragen, die der Bordellreferent gab, als ihn die Gerichtsverhandlung mit den Einrichtungen des Hauses Riehl bekannt machte: »Das ist sanitär ganz unzulässig!« Oder die Antwort des Polizeiagenten Piss auf die Frage, was er denn im Bordell amtlich vorgekehrt habe: »Ich hab’ halt so ziemlich die Mädeln gezählt«. Lauter kostbare Stücke! Austrias Schmuck, den sich die Betschwester durch Prostitution erworben hat ... Die Weltfremdheit, die am Gerichtstisch saß, hat mit stärkster Emotion zur Kenntnis genommen, daß von den Mädchen »absonderliche Dinge« verlangt wurden. Im Sinne dieser Feststellung wird wohl die Frage des Vorsitzenden an einen Sittenpolizisten: »War Ihre Revision eine normale?« zu verstehen sein. Keiner der revidierenden Herren, auch nicht jener, der die Häupter seiner Lieben zählte, hat die sanitären Greuel der Schlafstätten im Hause Riehl wahrgenommen. Auf die Frage des Präsidenten: »Sind Sie in die Lage gekommen, die Räumlichkeiten zu besichtigen?«, hätte Herr Piss freilich antworten müssen, er habe die Räumlichkeiten zwar besichtigt, sei aber dabei in die Lage gekommen. Jedenfalls weiß er ganz genau, daß zwei in einem Bett lagen ...
Die Weltfremdheit saß am Gerichtstisch. Sie sollte Rechtswidrigkeiten prüfen, aber die Augen gingen ihr über, als sie gewahrte, daß in einem Bordell auch »Naturwidrigkeiten« zur Hausordnung gehören. Daß die Riehl unter anderm wegen Kuppelei verurteilt wurde, ist schließlich ein so heiterer juristischer Kasus, wie die übliche Verurteilung eines Mörders wegen Übertretung des Waffenpatents. Aber der moralische Hochdruck des ganzen Verfahrens schien auf die Erhärtung der Tatsache abzuzielen, daß das Haus Riehl ein Bordell war. Schon die Anklageschrift unterließ es nicht zu betonen, daß die Mädchen »auf Kosten der Gäste konsumieren mußten«. Als aber eine erzählte, sie sei von der Riehl geschlagen worden, weil sie ein Glas Champagner, das nicht ihr gehörte, geleert hatte, da konnte sich der Vorsitzende nicht mehr zurückhalten und rief: »Ah, es wurde also Champagner getrunken! War denn Champagner im Hause? Wo ist der Eiskasten gestanden?« Schließlich die tiefgründigste der Fragen: »Wer mußte den Champagner zahlen?« Und eine endlose Schar von Zeuginnen zog vorüber, die alle bekundeten, daß Champagner getrunken, daß aber keines der Mädchen von der Riehl gezwungen wurde, ihn für die Herren zu bezahlen. Immer wieder wurde die Beweisaufnahme über Gewalttätigkeit und Veruntreuung durch solche Feststellungen gestützt, und ganz besonders schien den Präsidenten die Frage zu alterieren, ob die Mädchen von ihren Ausgängen mit der Riehl Herren mitgebracht haben. Daß in einem geordneten Staatswesen dem Geschlechtsverkehr bloß ein Tor der Weiblichkeit und auch dieses nur sozusagen bis auf Widerruf freiwillig eröffnet ist, versteht sich von selbst, und darum ist es auch begreiflich, daß sich ein Richter bei jeder Zeugin erkundigt, ob sie etwa zu »irregulärer Betätigung« verleitet worden sei, und daß in einem Urteil die »Heranziehung zu ekelerregenden Dienstleistungen« als belastendes Moment vorkommt. Die Prügel, die die Mädchen von Besuchern erhielten, schienen dem Gerichtshof in nichts von den Mißhandlungen durch die Bordellwirtin unterschieden. Hätte er erfahren, daß viel öfter die Mädchen die Herren geprügelt haben und daß sie dafür noch Geld bekamen, er hätte dies vergebens mit »Notwehr« zu erklären versucht und jedenfalls gefragt, ob nicht auch die Riehl von den Mädchen Prügel bekam ... Richter, Ankläger und Verteidiger überbieten einander in Verblüffung über all die Dinge, die sie noch nicht gewußt haben. Wenn sie schon fünf Tage — wie sagt man doch? — »durch ein Kotmeer waten müssen«, so wollen sie wenigstens etwas davon haben. Keine Lebenskenntnis und keine Phantasie, die die Lebenskenntnis ersetzen könnte. Aber jeder hat ein Werk über Prostitution gelesen. »Ich habe mir die Mühe genommen«, gesteht der Staatsanwalt, »ein zweibändiges Werk ›Zur Geschichte der Prostitution‹ durchzublättern. Meine Beobachtungen reichen bis zum Jahr 1180.« Daß die Mädchen gar so viel Geld für die Riehl verdient haben sollen, setzt alle in Erstaunen. »Warum haben Sie das Geschäft nicht in eigener Regie betrieben, wenn Sie eine so große Verdienerin waren?« fragt der Verteidiger, dem die Einnahme von 5000 Kronen in sechs Monaten abenteuerlich scheint. Ob »größeres Honorar gezahlt wird, wenn ein Mädchen jünger ist«, fragt der Vorsitzende. Will der Verteidiger eine Frage stellen, die ihn immerhin einer gewissen Vertrautheit mit dem Prozeßthema verdächtig machen könnte, so bittet er den Gerichtshof schamhaft, bei ihm »nicht auf eine besondere Sachkenntnis in diesen Verhältnissen zu schließen«. Er reinigt sich sofort von dem Verdacht, indem er außer sich vor Staunen gerät, da eine Zeugin erklärt, sie habe früher als Blumenmädchen vier bis fünf Gulden täglich verdient, und der Schmerzensschrei entringt sich seiner Germanenbrust: »Da möcht’ ich auch Blumenmädchen werden!« Aber vorläufig hat er’s noch nicht notwendig, da ihm die Riehl ein Honorar von 30.000 Kronen zahlt. (Dafür geht er auch kräftig für sie ins Zeug, überrumpelt eine Prostituierte mit der Frage, »woher sie denn weiß, was eine Geschlechtskrankheit ist«, fragt hohnvoll, ob am Ende »die Riehl sie angesteckt habe«, bittet einen Polizeibeamten, ihm auf Ehre und Gewissen zu sagen, ob die Freimädchen »oppositionelle oder aufrichtige Charaktere« seien, und schmettert, nachdem hundertmal festgestellt wurde, daß die Kupplerin den Mädchen sogar das Strumpfgeld abgenommen hat, beim ersten Strumpf, der zufällig nicht untersucht wurde, ein triumphierendes »Na also!« in den Saal. Der Angabe aber, ein Mädchen sei mit dem Pracker geschlagen worden, begegnet er a tempo mit der durchbohrenden Frage: »Mit welchem Pracker?«) Ein Wettlaufen um den Ehrenpreis der gründlichsten Ahnungslosigkeit. »Da ist er ja düpiert worden!« ruft der Präsident, als die Riehl erwähnt, sie habe einem gutzahlenden Herrn eine »falsche Jungfrau« zugeführt; und schon erwägt der Staatsanwalt, ob er nicht die Anklage auch auf dieses Betrugsfaktum ausdehnen solle, hebt es jedenfalls fürs Plaidoyer auf. (In einer monogamen Weltordnung trägt auch das Bordell dem sittlichen Prinzip monogamer Bedürfnisse Rechnung. Es gibt dort oft mehr »falsche Jungfrauen« als echte Freudenmädchen und gegenüber dem Vorwurf, sie mache Jungfrauen zu Dirnen, kann sich die Händlerin damit rühmen, daß es ihr viel öfter gelinge, Dirnen in Jungfrauen zu verwandeln. Triumph der Sittlichkeit! Prostitutio in integrum! Denn auch der Normalmensch braucht Illusionen, und wenn er schon in ein Bordell geht, so muß er wenigstens überzeugt sein, daß das Mädchen vor ihm noch keinem andern angehört hat.) Wie der Ochs vor der Grünen Thorgasse steht die Justiz vor der Sphäre, an die sie der Prozeß Riehl geführt hat. Und in dem allseitigen Staunen über die Verdienstmöglichkeiten einer Prostituierten ist es fast begründet, daß der Bruttogewinn der Prostitution in die Tasche der Kupplerin fließt. Hätte Frau Riehl die Mädchen nicht abgesperrt gehalten, rief der immer schlagfertige Verteidiger, so wären am Ende »die Mädchen ausgegangen und hätten das Geschäft auf eigene Rechnung gemacht!« Im Ernst: Nie wird eine Gesellschaft einem Wucher wehren, der eine Verdienstmöglichkeit beschränkt, die sonst »unsere Frauen und Töchter« anlocken und etwa gar die Frau eines Staatsbeamten verleiten könnte, ihrem Gatten auf bequeme Weise eine anständige Aktivitätszulage zu verschaffen! Wahrlich, die Gesellschaft hat die käufliche Liebe unter eine härtere Sanktion gestellt als die eines Paragraphen: unter die Strafe der wucherischen Beraubung.
Ein Zusammenstoß zweier Welten. Nicht alle Gesetze, aber manche sollen für beide gelten. So ist auch das Freudenmädchen verhalten, das »Rechtsgut der prozessualen Wahrheitsfindung« zu respektieren. Daß der Gerichtshof für die armen Geschöpfe, die vor dem Untersuchungsrichter die Riehl zuerst entlastet und dann belastet haben, nicht unwiderstehlichen Zwang gelten ließ, ist bloß ein logischer Verstoß, durch den er das Fundament seines Urteils, den Glauben an den Terrorismus der Riehl, erschüttert hat. Wesentlich ist, daß sich die gräßliche Beschränktheit jenes strafrechtlichen Geistes, der die Zweiteilung des Menschengeschlechts noch nicht zur Kenntnis genommen hat, an einem starken Beispiel offenbarte. Da wurden Worte darüber gemacht, ob die angeklagten Mädchen durch die Drohungen der Riehl oder durch das Versprechen der Riehl, ihnen schöne Kleider zu schenken, sich zur falschen Zeugenaussage verleiten ließen, und der zweite Verdacht ward von der Verteidigung pathetisch zurückgewiesen. Als ob bei einer Frau nicht schon die Aussicht auf ein neues Kleid den unwiderstehlichen Zwang begründete! Braucht man denn wirklich erst die psychischen Einflüsse des Bordellebens zur Erklärung der antisozialen Regungen eines Weibes heranzuziehen? Bordellmädchen, nein, Weiber sollen es verstehen, daß sie in derselben Gerichtsverhandlung als Beschuldigte lügen dürfen und als Zeuginnen die Wahrheit sagen müssen! Aber das Wort »zeugen« hat im ganzen Bereich der Weiblichkeit aller Kriminalität zum Trotz bloß einen Sinn, und wenn man den geistigsittlichen Habitus des Mannes für »falsches Zeugnis« verantwortlich machen darf, so könnte man der Frau höchstens eine fausse couche zur Last legen ... Nun, die Prostituierte, der die Polizei ihr Gesetzbüchel in die Hand gibt, in dem nichts von der Heiligkeit des Eides steht, darf sich endlich dort in die Höhe staatsbürgerlicher Geltung gehoben fühlen, wo sie des Rechts teilhaftig wird, wegen eines Verbrechens verurteilt zu werden. Ist’s ein Weg aus der Wirrnis, die die gesetzlichen Beziehungen zweier Welten regelt? Die Prostituierte muß Steuer zahlen, darf aber den »Schandlohn« nicht einklagen. Kuppelei ist erlaubt und verboten. Und »Eltern oder Vormünder« müssen »ihre Einwilligung zur Ausübung des Schandgewerbes« geben, werden aber nach dem Vagabundengesetz bestraft, wenn sie sich von ihren Töchtern oder Mündeln unterstützen lassen. Die Polizei spricht bei der Assentierung der Bordellmädchen ihr »tauglich« oder »untauglich«, und ein Vater, der mit dem Rekrutendrill in der Riehl-Kaserne einverstanden ist, wird bestraft. Die Polizei holt seine »Zustimmung« zur Berufswahl des Kindes ein, und ein Landesgerichtsrat fragt — ob er mit der Einsperrung des Mädchens einverstanden war? — nein, »ob er davon gewußt hat, zu welchem Zwecke seine Tochter im Hause Riehl behalten wurde« ...
Eine Welt, der die Geheimnisse des Liebeslebens im Kinderkriegen erschöpft waren, mag jetzt in der Betäubung einer Ohnmacht liegen, als wäre sie von Enthüllungen der Zustände auf dem Mars übertölpelt worden. Und in grotesker Ratlosigkeit rennen ihre Patrone durcheinander: die von amtswegen nicht schlafen dürfen, und die von der öffentlichen Meinung wegen immer das Maul voll haben müssen. Dem Teilnehmer dieser dumpfen Gerichtstage war es eine spannende Beobachtung, wie das Echo der Lebensfremdheit draußen zu einem ungeheuren Chorus erstarkte, wie die Eindrücke bedrohlichere Formen annahmen als das Ereignis. Man glaubte den Schreckensruf zu hören, der einst in das revoltierende Parlament drang: draußen werde geschossen; die Stafetten, die jetzt in den Gerichtssaal flogen, gaben von keiner geringern Verwirrung Kunde. Die Gerechtigkeit schlägt blind um sich und die Sittlichkeit feuert auf die Menschen. Man hört das Zähneklappern der Polizei, sieht ihre Emissäre im Gerichtssaal, die von Richtern und Anklägern Schonung erbitten und erkunden sollen, ob die Blamage unerträglich sei. Man erfährt von Fleißaufgaben der Reue, von hastigen Bordellrevisionen und Bordellsperrungen und glaubt ordentlich den Amtseid zu hören, daß nunmehr alle Unmoral ein Ende haben werde. Polizeibeamte erweisen den Vertreterinnen der Liga zur Bekämpfung des Mädchenhandels plötzlich zarte Aufmerksamkeit. Eine wird aus dem Gerichtssaal telephonisch ins Sicherheitsamt gebeten: mit glühenden Wangen kündet sie eiligst den Sitznachbarn, bei einer Masseuse sei ein junges Mädchen »der Prostitution zugeführt worden«, man »habe die Masseuse bereits«. Gleich den Lessing’schen Mönchen »sprangen, um zu retten«, die Polizisten von den Betten: wo waren sie? Sie waren bei der Hand. Alle Mann an Bord! heißt es jetzt und nicht mehr: Alle Männer im Bordell! Drei Beamte konnten den Verlockungen der Prostitution nicht widerstehen, aber viertausend wird es gelingen, eine Prostituierte auf andere Gedanken zu bringen. Und vielleicht wird an diesem Tag noch manches unerfahrene junge Ding, dem die Lebenslust aus den Augen lacht und das die Gefahren der bürgerlichen Moral nicht kennt, ein Opfer der Liga zur Bekämpfung des Mädchenhandels, jenes Vereines, dessen Mitglieder sich für das »Los der Gefallenen« so sehr interessieren, weil sie die Tragik des Frauenschicksals, nicht gefallen zu haben, so tief empfinden ... Dazwischen schwirrt allerlei Unverbürgtes durch den Saal, man nennt Namen, die die Angeklagte nicht nennen werde, und spricht — nein, tuschelt — von einem kulanten Ausgleich der Gerechtigkeit, wenn die Riehl drei eine gerade Zahl sein läßt und sich auch außerhalb des polizeilichen Lustreviers zu einem milden Verfahren gegen — bekannte Täter entschließt. Und schon wird das Zauberwort »Bachrach« genannt und das beruhigende Gerücht verbreitet, es sei dem Advokaten des Hofes und Hinterhauses gelungen, der Riehl für die Jahre ihrer Freiheit eine Bordellkonzession zu erwirken. Aber der offizielle Kriegslärm gilt dem »Laster« ... Wie sie nun sieht, daß der Käuflichkeit des Leibes ein Ende gemacht werden soll, erhebt im Nu die andere Prostitution, die des Geistes, ihr Haupt und ruft: Kauft nur uns! Die Freimädchen der Wiener Presse, die kein Arzt kontrolliert, sind toll geworden, belagern den Gassenstrich und stellen den Passanten ehrbare Zumutungen. »Fort mit der Prostitution, mit der öffentlichen sowohl wie mit der geheimen!« ruft der Kretinismus durch den Mund des ›Deutschen Volksblatts‹, »fort mit dem Gesindel von Dirnen und Zuhältern, die es einer anständigen Frau und einem unverdorbenen jungen Mädchen direkt unmöglich machen, sich zu gewissen Stunden des Tages, vom Abend und der Nacht gar nicht zu reden, in den Hauptstraßen unserer Inneren Stadt zu bewegen! Unsere Stadt muß wieder ein Hort des Anstands und der guten Sitte werden.« Das hat sich die Riehl zwar auch immer gedacht und darum ihr Haus gesperrt und ihre Fenster vergittern lassen. Aber das Mittel scheint sich nicht zu bewähren, und deshalb ist es gleich besser, mit dem Geschlechtsverkehr, soweit er nicht einen christlichsozialen Nachwuchs bezweckt, überhaupt aufzuräumen ...
Ein so ungeheurer Abgrund klafft zwischen dem wahren und diesem vom Phantom Sittlichkeit regierten Leben, daß darin tausend Fragen, die jetzt zu erörtern wären, versinken. Man weiß wahrhaftig nicht, wo man aufschreien, vor Entsetzen verstummen, die Augen aufreißen oder sich die Ohren verstopfen soll. Wieder möchte man nicht die Feder, sondern das Tintenfaß ergreifen, wenn man zusieht, wie die staatlichen Vertreter der Sitte im Salböl der Humanität ersticken. Ein Polizeikommissär, der sich mit einer Großtat brüstet, weil er einem Mädchen »den Rat gegeben« hat, sie solle »anständig bleiben«, und ein anderer, der mit unerhörtem Psychologenblick sofort jene, denen er »kein Büchel geben darf«, von solchen, »an denen nichts mehr zu verderben ist«, unterscheidet. Dabei weiß man, daß das stumpfste Geschöpf, das in der Waschküche eines Bordells sitzt, hundert Polizeikommissäre, auch solche, an denen nichts mehr zu verderben ist, an der Nase herumführen kann und daß die abgetakeltste Hure der beamteten Lebensfremdheit eine Jungfrau vormimt. Lüge, Phrase, Dummheit an allen Enden. Das große Wort, das diese Gerichtsverhandlung beherrscht hat, war der »Schandlohn« — in allen Tonarten zwischen Verachtung und Mitleid, in allen Schattierungen eines k.k. Dialekts den angeklagten Opfern der Dame Riehl ins Gesicht gerufen. Selbst ich hätte unserer lieben Justiz nicht zugetraut, daß sie das infame Wort aus dem hundertjährigen Gesetz in eine moderne Verhandlung retten, hätte geglaubt, daß ihrem frommen Sinn der »Sündenlohn« genügen werde. Aber sogar die Protokolle der Mädchen — man sehe, wie lebensecht Protokolle sind — enthielten in allen erdenklichen Variationen die Erklärung: »Ich habe keinen Schandlohn bekommen.« In einem Gemeinwesen, dessen festeste Stützen für Ordensgunst und Pfründen feil sind, dessen große Presse sich vom schmutzigsten Gewinn den Sonntagsbauch mästet und dessen Polizei in einem Bordell Strumpfgeld kriegt, wagt man es noch, der Öffentlichkeit das Wort »Schandlohn« in Erinnerung zu bringen! Der Gehalt, den der integerste Beamte und den der unbestochenste Journalist für eine Pflichterfüllung bezieht, die ihm nicht vom Herzen geht, der Lohn geistiger Prostitution ist ein viel schlimmerer Schandlohn als jener, den die Frau dafür empfängt, daß sie ihrer glücklichen Organisation entsprechend einen unerwünschten Geschlechtsakt vollziehen kann. Und die Gesellschaft verachtet sie tiefer als den korrupten Träger einer öffentlichen Funktion, als den käuflichsten Beamten und den bestechlichsten Journalisten; wütet gegen die Prostitution des Weibes, als ob sie die wichtigsten sozialen Interessen gefährdete, und hält die Korruption des Mannes für eine Angelegenheit individueller Ethik!
Die Verachtung des käuflichen Weibes hat, seitdem sie in die Welt gesetzt ward, nicht bemerkt, daß sie eine Verachtung der primitivsten Logik bedeutet. Denn wäre Prostitution des Frauenleibes wirklich jene innere Schmach, die mit Zentnerlast die Seele drückt, wie das Verbrechen das geistig-sittliche Gefüge des Mannes, nicht drei Tage lang könnte eine Frau das Leben einer Prostituierten ertragen. Prostitution wäre ärger als Verbrechen: die Wiederholung der Tat, nein, die Kontinuierlichkeit wäre allzusehr erschwerend. Scham und Ekel kämen als Übergewicht dazu. Aber hier urteilt nicht bloß der Neid, auch die Eifersucht des Mannes. Er zieht die Qualität des Mannes in Betracht und ein seltsamer Irrtum der Instinkte läßt ihn die Vorstellung, daß sich die schönste Frau mit dem widerlichsten Kerl einläßt, als eine an ihn gestellte Zumutung mit Entrüstung von sich weisen. Bei Tageslicht überdacht, ist der Geschlechtsakt des Andern, auch der harmonischeste, immer abscheulich. Die Herren der Schöpfung aber glauben, daß das Weib mit ihren richtenden Sinnen bei der Sache ist, während in Wahrheit der weibliche Geschlechtssinn, selbst dort, wo ihn kein Gefühl erregt, die anderen Sinne betäubt und alle jene Hemmungen ausschaltet, die die stärkste Sexualität des Mannes nicht zu überwinden, höchstens in erotische Hilfen zu pervertieren vermag. Emanzipierten Frauen und zurückgebliebenen Männern darf man’s nicht verraten, daß der Geschlechtssinn des Weibes, sicherlich im Momente der Übung, sein einziger Sinn ist. Feministen darf man’s nicht sagen, die das politische Wahlrecht der Frauen für dringend halten, aber mit dem Raub des sexuellen Wahlrechts der Frau einverstanden sind. Haben die Gehirne, deren Schulweisheit sich von den Dingen, die es zwischen dem Himmel des Genusses und der Erde der Konvention gibt, nichts, aber schon garnichts träumen läßt, haben sie denn nie sich die Frage vorgelegt, wieso es trotz alledem, trotz Schmach und Qual, noch Prostituierte gibt? Die länger als drei Tage, die heiter und gesund — trotzend selbst den körperlichen Gefahren, die nicht die Prostitution, sondern der Geschlechtsverkehr mit sich bringt — ein Leben führen, bei dem Tugend vergeht, aber Schönheit besteht und oft gerade darum die Schönheit besteht, weil die Tugend vergeht. Der authentische Text des Sprichworts mag Vertreterinnen des Vereins zur Bekämpfung des Mädchenhandels zum Trost gereichen. Oder jenen wirklich »Verlorenen«, vor denen ein Verein zur Bekämpfung der Unzulänglichkeit den Mädchenhandel schützen müßte. Die Not kann jeden Mann zum Journalisten machen, aber nicht jede Frau zur Prostituierten. Auf dem Liebesmarkt entscheidet, wie auf keinem andern Gebiete menschlicher Betätigung, die mitgebrachte Gabe. Der »Schutz der Schwachen«, mit dem sich die Guten das Himmelreich zu verdienen hoffen, werde auch hier geübt. Aber warum wird er nicht jenen zahllosen Frauen gewährt, denen das Familienglück ihre gesunden Instinkte verkümmert? Ob die Erziehung zur Tugend, die hinter den vergitterten Fenstern eines klerikalen Pensionats betrieben wird, nicht manchmal schmerzvoller drückt, als die Erziehung zum Laster durch Madame Riehl? Ob nicht manche, die die Wahl hat, das »Buch« oder den »Schleier« zu nehmen, sich nicht trotz den Enthüllungen eines Bordellprozesses unbedenklich für die Geschlechtskarriere entschiede? Ob die Aufgabe nicht unter Umständen schwieriger, die Vergewaltigung grausamer ist, ein Mädchen der Ehrbarheit zuzuführen, und schimpflicher der Nutzen, den »Eltern oder Vormünder« daraus ziehen? Lieschen König wurde von ihrem Vater geprügelt und »mit der Besserungsanstalt bedroht, so daß sie es vorzog, im Bordell zu bleiben«. Glaubt man, daß es der Riehl gelungen wäre, die Tochter des Herrn König ins Vaterhaus zu prügeln?
Regine Riehl wird für das Urteil, das sie betroffen hat, so wenig Verständnis aufbringen, wie die rächende Moral für die Welt der Regine Riehl, eine Welt der Konsequenz und innern Geschlossenheit. Diese Angeklagte sieht sich plötzlich in einen Konflikt mit der Gesellschaftsordnung verwickelt, mit der sie bisher auf dem besten Fuß gelebt hat. Sie konnte sich für deren Stütze halten, ihr Haus für einen Hort der Ordnung in diesem zerfahrenen Staatswesen, wo es in Parlament, Justiz und Verwaltung drunter und drüber geht. Nicht nur deshalb, weil ihr die Polizei half, die besten Kreise bei ihr verkehrten und hohe Persönlichkeiten, die auf jedem Gebiete Beschützer der schönen Künste sind, ihr offene Gunst gewährten. Der Ausruf, den sie im Gerichtssaal tat: »Herr Präsident, ich habe aus diesen Mädchen erst Menschen gemacht!« war der Protest einer stolzen Seele, die Undank erfahrt. Sie zahlte pünktlich ihre Steuer an den Staat, und wenn sie den Herren von der Steuerbehörde den Vorzugspreis von einem Gulden gewährte, so war dies nicht der Versuch einer Bestechung, sondern die Opferwilligkeit einer Patriotin, die auf ihre Weise zur Linderung des Beamtenelends beiträgt. Und kein Polizist ging unbeschenkt von ihrer Schwelle ... Wozu der Lärm? Er ist entstanden, weil einer fühllosen Moral die Vermeidung des »öffentlichen Ärgernisses« wichtiger ist als das Wohl des Individuums, weil die Polizei auf dem Bürgersteig Ruhe haben will und diese Ruhe auch um den Preis erkauft, daß in den Häusern willenlose Menschenkinder stranguliert werden. Wozu der Lärm? Nun habt ihr die Strangulierung und das öffentliche Ärgernis dazu! »Wehe euch Schriftgelehrten und Pharisäern, ihr Heuchler, die ihr die Becher und Schüsseln auswendig reinlich haltet, inwendig aber ist es voll Raubes und Fraßes!«
— — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —
Und wieder werden sich die drei Knaben nach Donau-Eschingen begeben und dort eine Quelle mit ihren Daumen zuzuhalten versuchen, damit nicht allzuviel Wasser ins Schwarze Meer komme. Nun wird unter gewaltigem Lärm der Kuppelei, nein, der Prostitution, nein, dem außerehelichen Beischlaf der Krieg erklärt. Das Aufgebot der Heuchelei ist imposant, der Generalstab der Dummheit plant Ungeheures. Alle Vorräte aus sämtlichen sozialen Feldapotheken werden herausgeschafft, und durch eine Blutgasse wälzt sich die Liga zur Bekämpfung des Mädchenhandels, zupft schon die Leinwand von Bordellbetten zu Charpie, um die Gefallenen aufzurichten und in eine bürgerliche Stellung zu bringen. Aber wo es Gefallene gibt, gibt es auch Hyänen. Und die Gefallenen des Lebens haben die bittere Wahl, von den Samariterinnen gerettet oder von den Bordellhyänen gefressen zu werden. Ich glaube, sie werden sich für die Bordellhyänen entscheiden. Und der fade Dunst aus Humanität und Langweile, der sich übers Blachfeld lagert, wird diese rudelweise herbeilocken, und am Horizont taucht die Fata Morgana eines Freudenhauses auf, wo hinter Milchfenstern ein Champagnerglück wohnt und Frau Regine Riehl ihren Lieblingen die Haare streichelt, um zu fühlen, ob nicht ein Strumpfgeld darin versteckt ist. Denn Regine Riehl wird auferstehen, und dieses wird der Friedensschluß sein des Krieges, den man der Prostitution erklärt hat.
— — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —
Wer den Mut hat, sich einmal tüchtig die Augen zu reiben und dann nachzusehen, wie alle Unsittlichkeit in diese Welt gekommen ist, den wird die Entdeckung blenden, daß alle Sittlichkeit dieser Welt das Übel verschuldet hat. Und mehr als das. Sie hat auch Not und Tod verschuldet. Denn die Moral ist eine venerische Krankheit. Primär heißt sie Tugend, sekundär heißt sie Langweile, und tertiär heißt sie Syphilis. Und weil eine unerbittlich verzeihende Religion die Tugend den Menschen als Strafe für ihre Laster gegeben hat, sind die führenden Dummköpfe der Menschheit auf die Idee gekommen, die Moral als ethisches Schutzgut zu heiligen. Nun wütet sie in den legitimen Formen der Langweile und der Syphilis gegen die Menschheit. Moral lähmt, steigt ins Gehirn, schlägt mit Blindheit, macht Natursäfte vertrocknen, Arterien verkalken. Aber nichts mehr auf dieser Welt können wir anfassen, kein Handwerk üben, kein Problem lösen, ohne daß sich der korrumpierende Einfluß der Moral geltend machte. Handelt es sich um eine Frage der künstlerischen Entwicklung, so sind wir moralisch; handelt es sich um praktische Neuerungen, so sind wir moralisch; und stirbt einer am Fieber, so stecken wir ihn überdies noch mit Moral an. Und wir sind so moralisch, daß wir nicht ausschließlich unseren Priestern das Vergnügen gönnen, um unser Seelenheil besorgt zu sein, sondern dieses rechtzeitig auch unseren Kriminalisten in Obhut geben, und daß wir darum Dinge, die eigentlich nur vor den obersten Richter gehören und wahrscheinlich nicht einmal ihn interessieren, schon vorher bei drei Instanzen zu vertreten haben. Da ist etwa der bekannte und mit Recht beliebte außereheliche Beischlaf. Durch ihn fühlt sich fast immer die eine oder die andere Behörde beleidigt. Da ist das Naturrecht der Frau, die Summe ihrer ästhetischen Vorzüge an wen sie will zu verschwenden oder von wem sie will sich in eine geltende Währung umsetzen zu lassen. Weil es eine rein moralische Angelegenheit ist, mischt sich die Behörde hinein. Natürlich schämt sie sich ihrer Indiskretion und schützt hygienische Interessen vor. Tut so, als ob sie es wirklich den Seelenheilgehilfen überließe, sich um die Reinheit der Sitten zu bekümmern, und protzt mit der Wahrung gesundheitlicher Interessen. Sie lügt. Ihr Ausdruck »Schandlohn« straft sie Lügen. In Wahrheit hat sie an dem Problem der Prostitution kein anderes Interesse, als mit dem Knüppel der Moral die Hygiene totzuschlagen. Sie begräbt ihre Pestleichen bei Nacht, so daß man zwar angesteckt werden kann, aber wenigstens nicht weiß, woher man die Pest hat. Ihre Prophylaxis heißt Finsternis. Unheilbar liegt die Menschheit an Heuchelei darnieder, und die Ärzte verordnen Quecksilberkuren ...
An der Gottesgabe des Weibes, genußspendend zu genießen und ohne zu genießen Genuß zu spenden, übt männliche Unzulänglichkeit, die sich mit geistigen Vorzügen schwerer zur Geltung bringt, ihre Rache. Kläglichster Konkurrenzneid hat die Prostitution als der Übel größtes erklärt, weil ihm die Prostituierbarkeit als der Güter höchstes erscheint, und das Feigenblatt des Neides ist sittliche Entrüstung. In Acht erklärt ist der unschätzbare Besitz der Menschheit an Anmut und elementarster Natur. Um ihn herum ein Stachelzaun, hinter dem die Gesellschaftsordnung beginnt. Aus ihr preschen, wenn’s dunkel wird, Scharen der Verächter in jenen unheiligen Bezirk. Die aber darin wohnen, führt kein Weg in die Gesellschaftsordnung. Oft klebt das Blut solcher, die nicht den Stolz des Verbanntseins fühlen können, am Stachelzaun. Immer aber schießen die von der Gesellschaftsordnung hinüber; verachten die Ausgestoßenen bei Tag, weil diese sich nachts ihre Liebe gefallen lassen mußten. So bewahren die drüben eine heroische Passivität seit Jahrtausenden gegen die Gesellschaftsordnung, die täglich neue Tücken gegen sie ersinnt. Sie lassen sich nicht aus den Bahnen ihrer Naturbestimmung weisen. Hätten sie wirklich, wie der Moralistenwahn behauptet, ein ethisches Gut verloren, verwetteten sie durch Preisgabe ihres Leibes wirklich das, was der christianisierte Zulukaffer »Seelenheil« nennt, sie wären wahre Heldinnen der Tat; denn sie opferten lustlos ihr Innerstes fremder Lust. Aber sie spüren einem großartigen Naturwillen zufolge nicht die Insulte der Zärtlichkeit und tragen die Insulte der Verachtung. Sie stehen täglich im Kugelregen des sozialen Hochmuts, der ihnen selbst Krankheiten unbedenklich zuschiebt. Und die den Freudenbecher gewährt, sterben an dem alkoholischen Gifttrunk, den ihnen die christliche Nächstenliebe reicht ...
Muß es eine Sittlichkeit in dieser Welt der Finanzdiebe und Journalisten geben, so sei gefragt, ob nicht die Hure, die Achtung und Ansteckung um einen wahren — Schandlohn riskiert, sittlich tausendmal höher steht, als etwa jene Schufte, die all der Jammer, der sie im Hause Riehl um Hilfe bat, ungerührt ließ und die sich, nach Verabreichung des »Schandlohns« an die Ausbeuterin, aus Rücksicht auf ihre »soziale Position« von ihren menschlichen Verpflichtungen gedrückt haben. Wie grotesk nimmt sich neben der Größe solchen Erduldens die humanitäre Schäbigkeit dieses Polizeitalters aus, das sich zu den »Verlorenen« herabläßt, sie mit Sittensprüchen wie »Werden Sie anständig!« oder »Ergreifen Sie einen ehrlichen Beruf!« sozusagen blitzt!
»Den Verachtetsten unter den Verachteten Schutz zu gewähren«, heischt eine Verteidigerphrase. Aber »schützen« heißt hier einzig und allein: Nicht verachten! Alle Reform der Sittenpolizei, die nicht deren Abschaffung bezweckt, ist von übel. Der Betriff »Prostitution« ist aus dem Strafgesetz beinah verschwunden, er hat auch aus dem Interessengebiet der Verwaltung zu verschwinden. Immer und immer wieder: Es gilt hier nur Rechtsgüter der Gesundheit, der freien Willensbestimmung und der wirtschaftlichen Sicherheit zu hüten! Die Schamhaftigkeit hat eher in Fragen der Technik dreinzureden, als in Fragen des Geschlechtsverkehrs, und mit Sittensprüchen baut man immer noch eher Eisenbahnen als Freudenhäuser. Ob eine Frau ihren Leib verschenkt, für Stunden oder für Jahre vermietet, sich ehelich oder außerehelich verkauft, geht den Staat nichts an. Ob die Prostitution eine Krankheit der Seele ist, geht ihn nichts an. Aber die venerischen Krankheiten, die ihn angehen, sind nicht eine Folge der Prostitution, sondern des Geschlechtsverkehrs. Da nun ein Verbot des Geschlechtsverkehrs doch ziemlich aussichtslos und einigermaßen gefährlich wäre, müssen andere Mittel gefunden werden, die Infizierung der Menschheit mit den venerischen Giften zu hindern, und gründlicher zu hindern, als es durch revidierende Polizeiärzte bisher geschehen ist. Die Richtung, in der man zu suchen hat, kann nur diese sein: Schaffung eines Gesetzes, das die wissentliche Übertragung einer venerischen Krankheit — namentlich an den Männern — mit schwerer Ahndung bedroht. Man wird unter anderem einwenden, daß erpresserischem Mißbrauch eine neue Tür geöffnet würde und daß die Schamhaftigkeit die Anzeige unterließe. Solchen Möglichkeiten wäre durch den Meldezwang für venerische Krankheiten beizukommen, die die Staatsdummheit noch nicht in die Gefahrenklasse von Blattern, Flecktyphus und Diphteritis eingereiht hat. Durch die Aufhebung der Schweigepflicht des Arztes, der heute den Eltern der Braut nicht verraten darf, daß sie ihre Kinder einem syphilitischen Vater verdanken wird. Nicht »Fort mit der Prostitution!«, aber fort mit einer Sexualethik, die die Käuflichkeit der Lust unter die Strafsanktion der Ausbeutung und die Lust unter die Strafsanktion der Ansteckung gestellt, die die Syphilis geradezu als ultima ratio gegen die »Unzucht« sich erhalten hat! Fort mit der Schamhaftigkeit, die die körperliche und geistige Gesundheit der Völker seit fast zwei Jahrtausenden untergräbt! Vor allem die geistige. Denn die Natur hat dem Weib die Sinnlichkeit als Urquell verliehen, an dem sich der Geist des Mannes Erneuerung hole. Die Gründer der Normen aber haben das Verhältnis der Geschlechter verkehrt, die habituelle Sexualität der Frau in die Konvention geschnürt und die funktionelle Sexualität des Mannes schrankenlos ausarten lassen. So ist die Anmut vertrocknet und der Geist. Der Frau sind Würde und Bewußtheit vorgeschrieben, dem Mann ein tierisches Sichausleben gestattet. Darum kanalisiert er den herrlichen Wildstrom weiblicher Sinnlichkeit für seine uninteressanten Bedürfnisse, und sein Gehirn geht leer dabei aus. Es gibt noch Sexualität in der Welt; aber sie ist nicht mehr die triumphierende Entfaltung einer Wesenheit, sondern die erbärmliche Entartung einer Funktion. Die Natur des Weibes ist geknebelt, und die Schweinerei des Mannes dominiert. Naturalia sunt turpia, und darum stehen die turpia in Flor.
Der Kontrast, in dem heute der Vollbesitz von fünf Sinnen zu einer Lebensanschauung ruht, die noch immer die Natur mit der Mistgabel der Moral austreiben oder mit der sozialen Heilslehre einschläfern möchte, treibt die Erkenntnis bis an jene Grenze des Humors, an der die tragische Verzweiflung beginnt. Tarnen usque recurret! Das ist die Hoffnung, die uns erhält. Ein Blick aus dem Auge des Freudenmädchens ist siegreicher, als eine Welt in Waffen. Liebe bleibt. Sie ist nur von Gewissensbissen gewürzt; und Gewissensbisse sind die sadistischen Regungen des Christentums. So hatte Er’s nicht gemeint. Aber auch gesprochen: »Wahrlich, ich sage euch, Zöllner und Huren werden eher in das göttliche Reich kommen als ihr.« Da sie aber auf Erden das »Ärgernis« vermeiden wollen, und Jene in geschlossenen Häusern verbergen, die vor ihnen in das göttliche Reich kommen werden, so gilt ihnen sein Wort: »Wehe euch, ihr Heuchler, die ihr die Becher und Schüsseln auswendig reinlich haltet, inwendig aber ist es voll Raubes und Fraßes.« Da sie aber die Freude den Menschen neiden, so gilt ihnen sein Wort: »Wehe euch, ihr Heuchler, die ihr das Himmelreich zuschließet vor den Menschen; ihr selbst gehet nicht hinein und die hinein wollen, lasset ihr nicht hinein« ... Lückenlos ist das Gebäude einer Ethik nicht, das ein Naturtrieb in seinem Grund erschüttert und dessen Bewohner stets gern dort hinausfinden, wo der Zimmermannssohn ein Loch gelassen hat.
Vgl.: Die Fackel, Nr. 211, VIII. Jahr
Wien, 13. November 1906.