Diskrete Zusammenkünfte
Dezember 1905
Die sozialkritischen Verdauungsbeschwerden liebt unsere liebe Presse nicht. Darum schöpft sie von der ungenießbaren Melange der Wiener Ereignisse bloß die Schlagsahne süßen Klatsches ab. Sie beklagt etwa das Schicksal eines Neunundsiebzigjährigen: er »hat sich als Fabrikant ein ansehnliches Vermögen erworben«, und mußte nun ein Abenteuer mit der österreichischen Justiz erleben. Mit der Diskretion einer vornehmen Kupplerin, die ihre den europäischen Dynastien geleisteten Dienste dem Besucher rühmt, schildert die ›Neue Freie Presse‹, wie ein Rendezvous zwischen dem »angesehenen Fabrikanten« und der österreichischen Justiz zustandekam. Bloß das Alter des Klienten interessiert sie; sie verliert kein kritisches Wort über das Alter der Dame, der es noch immer erlaubt ist, staatsbürgerlicher Unschuld Fallstricke zu legen. Daß der Greis einst auf der Bank eines Parkes saß, »um sich von der noch warm strahlenden Herbstsonne bescheinen zu lassen«, läßt uns kalt. Wie er das Gespräch mit seiner jungen Nachbarin angeknüpft hat, macht uns auch nicht warm. »Am folgenden Tag macht er sich fröhlich auf den Weg, um der Einladung zu folgen. Schreckt ihn nicht das Los Franz Sikoras zurück, der vor nicht langer Zeit ein gleiches Abenteuer schwer büßte? Warnt ihn die Erinnerung an diesen Greis nicht, der, vielleicht heiter wie er, seinem Schicksale entgegenging und nicht mehr zurückkehrte?« Der diese Frage stellt, muß selbst zugeben, daß unserm Greis nicht ganz so übel mitgespielt wurde wie dem Opfer der Mörderin Klein. Die Dame, die Nachbarin auf der Bank, war harmlos. Aber die österreichische Justiz, die Schlüssellochhorcherin, wurde gefährlich. »Im Namen des Gesetzes, öffnen Sie!« Und noch einmal: »Im Namen des Gesetzes, öffnen Sie, sonst muß ich die Tür erbrechen!« Zwei Polizeiagenten treten ein. Gegen die Wohnungsbesitzerin war Anzeige erstattet worden, daß sie die Wohnung für »diskrete Zusammenkünfte« vermiete. Verschwörung? Hochverrat? Nein, für strenger verpönte Heimlichkeit. Der Alte soll seinen Namen angeben, weigert sich mit Recht, wird mit der Abführung ins Kommissariat bedroht und greift in seiner Herzensangst, die ihm die sozialen Schrecken des Bekanntwerdens einer Sexualhandlung ausmalt, zu dem verzweifelten Entschluß, den nicht immer mißlingenden Versuch zu unternehmen, sich in eine Amtshandlung mit einer Zehnguldennote einzumengen. Diesmal hat die Zumutung geringschätziges Lächeln geweckt. Wenn sich die Kupplerin, die das Rendezvous vermittelt, das Strafrisiko mit der Hälfte des »Schandlohns« bezahlen läßt, so könnte die Staatsgewalt, die das Rendezvous vereiteln kann, gewiß mehr als die Hälfte beanspruchen. Wehe dem, der — und noch dazu mit unzureichenden Mitteln — das ethische Hochgefühl eines Spitzels zu erschüttern versucht hat! »Dieser Herr«, ruft er seinem Genossen zu, »hat mich jetzt bestechen wollen, damit ich gegen meine Amtspflicht handle.« Der Greis wird der »versuchten Verleitung zur Verletzung der Amtspflicht« angeklagt. Ein jeder von uns würde sie begehen, wenn Büttelneugier sich in die privateste Handlung mischt, wenn ein »unerlaubtes Verständnis« zweier Liebesleute durch das erlaubte Unverständnis zweier Amtspersonen gestört werden soll. Der Richter, dem so menschliche Erwägung nicht ganz fernzuliegen scheint, läßt den Angeklagten mit einer Geldbuße davonkommen. Den Qualen, die er in Erwartung einer Arreststrafe und des Familienskandals ausgestanden hat, gewinnt die ’Neue Freie Presse’ den Humor der Pikanterie ab. Auch die Justiz verliert bei den Schändlichkeiten, die das Gesetz sie begehen heißt, ihre gute Laune nicht: »Als der Neunundsiebzigjährige in der geheim geführten Verhandlung auf dem ihm zugewiesenen fatalen Platze erschien, zeigte sich«, so erzählt Schmock, »ein Schmunzeln bei den Personen am Gerichtstische«. Und es habe Wirkung geübt, als der Verteidiger »mit Humor schilderte, in welche Nöten der beklagenswerte greise Liebhaber durch sein Abenteuer gelangt sei«.
Die Justiz bedrängt das Privatleben, und die Publizistik müßte dazu ihr prinzipielles Wort sagen. Aber sie ziehen sich gemeinsam ins Gemütliche zurück und schlagen augenzwinkernd das Strafgesetzbuch auf, dort, wo die »pikanten Blätter« beginnen. Wieder eine »Lasterhöhle« ausgehoben! Der unschuldige Leser des Gerichtssaalberichtes glaubt in solchem Falle, daß Prostitution und Kuppelei nunmehr ein Ende haben. Der raffinierte beklagt, daß man eine Adresse zu spät erfährt. Und keiner weiß, daß es der Behörde bloß darum zu tun ist, einigen soliden Firmen — sozusagen Hof- und Kammerlieferantinnen — die lästige Konkurrenz vom Halse zu schaffen. Denn nicht immer und überall dringen Polizeiagenten ins Schlafzimmer: ihren höchsten Vorgesetzten und anderen Herrschaften wäre es nicht erwünscht, zu so ungelegener Stunde gestört zu werden. Als Schutzengel bewachen sie das Haus, auf daß der Beischlaf der Gerechten nicht gestört werde. So oft man liest, daß eine arme Offizierswitwe vor Gericht gezerrt wurde, die als Vermieterin eines Absteigquartiers noch immer mehr Moral beweist als der Staat, der sie durch eine schäbige Pension zu solchem Nebenverdienst zwingt, empfindet man ein Bedauern über die Ungerechtigkeit des Schicksals, das die Straftat der Gelegenheitsmacherei nicht in allen Fällen durch die Vornehmheit der Klientel paralysiert hat. Der Ausspruch einer Anfängerin, der man angesichts der erdrückenden Übermacht der protokollierten Firmen ein schlechtes Prognostikon stellte: »Ach was! Ich habe bereits an das Obersthofmeisteramt geschrieben!«, klingt nicht erfunden. Als der — noch nicht ganz neunundsiebzigjährige — König von Spanien nach Wien kam, wurden außer den Schadchen auch die Kupplerinnen Wiens mobilisiert. Und es ist Tatsache, daß von offizieller Seite ein Absteigquartier für den hohen Gast gemietet wurde. Mit Recht. Warum sollte ihm versagt sein, was sich jeder Fremde von geringerer Distinktion mit Hilfe des Hotelportiers verschaffen kann? Noch ist er ja unverlobt. Die Hotelportiers des Obersthofmeisteramtes wissen, wozu sie verpflichtet sind. Und die Polizeiagenten, die die Mauer machen, werden nicht durch Zehnguldennoten für die Verletzung, sondern durch spanische Orden für die Erfüllung ihrer Amtspflicht belohnt.
Vgl.: Die Fackel, Nr. 190, VII. Jahr
Wien, 11. Dezember 1905.