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Der Meldzettel

Februar 1907

Ach, die Ämter scherzen ja nur. Den »neuen Meldzettel« meinen sie nicht ernst. Gewiß, die Gefahr, daß infolge der glücklichen Versuche des Professors Wagner v. Jauregg die bureaukratische Befähigung aussterben könnte, ist in hohem Grade vorhanden. Aber daß man gegen die drohende Heilung des Kretinismus eigens durch den Meldzettelerlaß demonstrieren wollte, ist nicht glaubhaft. Und er wäre eine Demonstration! Daß die alte Dummheit noch lebt, diese Erkenntnis quillt täglich aus allen Poren unseres Staatswesens: braucht man sie auch dadurch zu beweisen, daß man sich anstrengt, neue Dummheiten zu ersinnen? Nun also! Wir gewöhnen uns schließlich an jede österreichische Misere und könnten vielleicht die Staatskost ohne den Hautgout der Gehirnerweichung gar nicht mehr genießen. Aber wenn wir »kernweich« bestellt haben, und man serviert uns eine Tunke, so haben wir ein Recht auf Unzufriedenheit. Die Meldezettelreform wäre eine Übertreibung des Österreichertums, und darum finde ich sie unglaubhaft. Darum vermute ich, daß sie ein Ulk ist, den ein fürwitziger Kanzlist der Faschingszeitung eines Einbrecherball- Komitees entnommen und in die liberale Presse geschmuggelt hat; — und daß sich diese mehr über den Aufsitzer, als über die Verordnung entrüstet. Der Minister des Innern, der Statthalter, der Polizeipräsident und ihr höchster Vorgesetzter, der Hausmeister, müssen hellaut aufgelacht haben. Nur der schreckhafte Liberalismus konnte ihnen den Plan zutrauen.

Es ist ja wahr, die österreichische Verwaltungsweisheit basiert auf dem Meldzettel, der Mangel an Eingebungen der Regierenden wird hierzulande durch die Fülle von »Eingaben« der Regierten wettgemacht, und die Gerechtigkeit dieses Staates heißt »Justament!« Aber es ist unwahrscheinlich, daß die österreichischen Bureaukraten die österreichischen Staatsbürger für größere Esel halten, als sich selbst. Es ist unglaubhaft, daß man in den Tagen, da die Last der Postgebührenerhöhung auch das geduldigste Saumtier störrig macht, ihm noch einen strengen Meldzettel vors Maul binden wird. Und es ist ausgeschlossen, daß dieser Staat von seinem Bürger mehr verlangt, als daß er sein Geld, seine Zeit, seinen Nervenfrieden, sein ganzes Leben den Vexationen der Steuerämter, Zollämter, Konskriptionsämter, magistratischen Bezirksämter und Militärtaxkatasterrentensteuergebührenbemessungsämter opfert; daß er sich auf dem Weg von einem Amt ins andere von der Elektrischen überfahren oder wenn er, um diesem Schicksal zu entgehen, selbst »eine Zone überfährt«, wegen Betruges einsperren läßt; und daß er noch auf seine Frage, ob er denn endlich in Ruhe sterben könne, dankbar und gottergeben den Bescheid entgegennimmt: »Machen S’ eine Eingabe!«

Nein, ich glaube es nicht, daß neuestens mehr verlangt werden soll. Glaube es nicht, daß die Behörden außer der »Veranlagung der Personaleinkommensteuer« — man muß in Österreich selbst zum Steuerzahlen »veranlagt« sein —, daß sie außer jenem Studium des Steuerbogens, das nebst der Kabbala der Juden zu den schwierigsten Geheimlehren gehört, die die Kulturgeschichte kennt, auch noch eine besondere Montierung des Meldzettels vorschreiben, der nebst dem gelben Fleck der Juden zu den markantesten Erkennungszeichen der Menschheit zählt. Je nun, ob der Beischlaf, den der Bürger »ausübt«, ein ehelicher oder außerehelicher sei — das einzige Gebiet, auf dem in Osterreich der Befähigungsnachweis verpönt wird —, mag den Staat interessieren; und er mag nervös werden, wenn er von einem »Schandlohn« hört, der irgendwo verdient wurde, weil ihn das Wort in jedem Sinn an die Löhne erinnert, die er seinen Beamten auszahlt. Aber er soll sich unsern »Leumund« erschnüffeln wie er kann, und er darf uns nicht zwingen, Bekenntnisse, die für unser Tagebuch bestimmt sind, ihm in seinen Meldzettel hineinzuschreiben. Wenn freilich die Neue Freie Tränenpresse auf solchen Zwang bloß deshalb reagiert, weil jene Bekenntnisse uns unter Umständen »nach den geltenden Begriffen der bürgerlichen Gesellschaft, die auf sozialer Notwendigkeit beruhen, herabsetzen«, weil sie die »Schande« eines »gefallenen Mädchens« preisgeben könnten u. dgl., so rechtfertigt wieder einmal, wie so oft in österreichischen Landen, die Opposition den Druck, der wenigstens die Konsequenz für sich hat. Dann könnte uns wahrhaftig ein Staat, der bloß die Exekutive der geltenden Begriffe der bürgerlichen Gesellschaft — die noch dazu auf sozialer Notwendigkeit beruhen — darstellen will, immer noch mehr imponieren, als die liberale Halbschlächtigkeit, die jene heuchlerischen Begriffe in die Welt gesetzt hat, hierauf die »Schande« heuchlerisch verdecken möchte und zuletzt noch radikale Abwehr gegen deren staatliche Stigmatisation heuchelt. Aber nicht weil der Staat die Aufdeckung »unehrenhafter« Tatsachen unseres Privat- und Familienlebens betreibt (und von uns selbst verlangt), sondern weil es Tatsachen unseres Privat- und Familienlebens sind, darum muß man sich seiner Zudringlichkeit erwehren. Der Staat belästigt Frauen und Mädchen nicht nur auf der Straße, sondern verfolgt sie sogar bis in ihre Wohnungen, und während sonst die alten Steiger sich mit der Adresse begnügen, verlangt er auch die Angabe des Jahres und Tages der Geburt, wünscht zu wissen, ob die Dame schon ein Kind hat, wann es geboren wurde, ob der Vater beschnitten ist u.s.w. Erotik oder müßige Neugier — daß einer, der Dinge erkunden will, die ihn jedenfalls nichts angehen, den Befragten zu schriftlicher Beantwortung seiner Fragen zwingt, ist unerhört. Nicht weil das Bekenntnis dem Beichtenden »zur Schande gereichen« könnte — der Richter erlaubt dem Zeugen, sich in solchem Fall der Aussage zu entschlagen, der Hausmeister ist gegenüber dem Mieter unerbittlich —: nein, man protestiere auch gegen den Zwang, die ehrenhaften Tatsachen des Privatlebens in den Meldzettel einzutragen, zu denen ich allerdings in erster Linie die »Schande eines gefallenen Mädchens« zähle. Nicht daß die Polizei uns den vertrottelten Begriffen, die die bürgerliche Gesellschaft von sexuellen Dingen hat, preisgibt, möchte ich ihr verübeln, sondern daß sie Dinge von uns zu hören wünscht, die sie jenen Schmarren angehen, der speziell in Wien so gut zubereitet wird, stark mehlhältig ist und die allgemeine Verkleisterung der Gehirne wesentlich fördert. Daß wir unter unseren Kleidern nackt sind, halte ich im Gegensatz zu der in der ganzen Nacharschaft vorherrschenden Meinung für keine unehrenhafte Tatsache unseres Privat- und Familienlebens; aber ich möchte mich doch sehr lebhaft dagegen verwahren, daß man uns die Kleider vom Leibe zieht.

Ein diskreter Meldzettel, der höchstens nach Namen und Stand fragt und nicht nach der Vergangenheit unserer Frau und nach der Zukunft unserer Kinder, sei kein Palliativ für unsere »Schande«, sondern für unsere Intimität. Aber dann würde freilich die Schande der Polizei bloßgehen. Und daß dies nicht geschehe, soll die Reform des Meldzettels (wenn sie kein Faschingsulk ist) bewirken. In England, meint die ’Neue Freie Presse’, gebe es überhaupt keine Meldevorschriften und dennoch könne niemand behaupten, daß die englische Polizei nicht mindestens auf der Stufe unserer Sicherheitsbehörde stehe, wenn es sich um die Verfolgung der Verbrecher handelt. Wieder die liberale Halbschlächtigkeit, die sich nicht zu sagen traut, daß die Wiener Polizei eben den Meldzettel braucht, weil sie kein Vertrauen in ihre Findigkeit hat. Daß sie zur endlichen Erreichung ihres Zweckes, ein paar Verbrecher zu erwischen, sich nicht anders als durch das Mittel helfen kann, die ganze Bevölkerung ihrer Freiheit für verlustig zu erklären und zu sagen: Einer wird’s schon gewesen sein! Nun ist es leider nicht ganz ausgeschlossen, daß die Verbrecher, die bereits Diebstahl, Betrug, Raub und Mord begangen haben, auch noch das letzte, entsetzlichste aller Verbrechen riskieren: Falschmeldung; und die Folge wäre, daß man sie dann wieder nicht hätte und daß den Bestohlenen und Ermordeten bloß das tröstende Bewußtsein bliebe, ihren eigenen Meldzettel gewissenhaft ausgefüllt zu haben. Bisher begnügten sich die Behörden damit, einen, der der Falschmeldung überwiesen war, auch eines Totschlags für fähig zu halten. Müßten sie nicht auch damit rechnen, daß ein überwiesener Totschläger am Ende einer Falschmeldung verdächtig sein könnte? Ja, das Salz, das man einem Spatzen auf den Schwanz streut, wenn man ihn fangen will, ist hierzulande Staatsmonopol ...

Die Verheerungen, welche die laut Meldzettel nach Österreich zuständige Dummheit anrichtet, vollziehen sich mit jenem Humor der Selbstverständlichkeit, der die Katastrophe in einer Knockabout-Farce begleitet. Der Staatsclown schlägt uns die Hacke in den Schädel und fragt, »ob wir das bemerkt haben«. Ein Nigger aber tritt zum Schluß auf, der alles, was sich hier begibt und wofür wir Zivilisierten das Gefühl verloren haben, sonderbar findet. Das ist der lustige Prinz von Liberia, der neulich bei Maxim mit der Zechschuld durchging, dieweil der Chor der Kellner, Fiaker, Fremdenführer und Büfettdamen, fasziniert von der Visitkarte des schwarzen Spitzbuben, dastand und den Operettenrefrain »Er ist ein Prinz, er ist ein Prinz« sang. Wien, wie es leibt und lebt. Zwischen dem ewigen Mißtrauen einer Behörde, die es verdächtig findet, wenn jemand »in einer Nacht« fünf Gulden durchbringt, und dem ewigen Vertrauen einer Bevölkerung, die den »anscheinend den besseren Ständen Angehörigen« getrost auch mit fünfhundert Gulden durchgehen läßt, gedeiht jener überlegene Humor, den Roger Abraham Bamba Harrison, Prinz von Liberia, mitbrachte, als er aus Afrika kam, um eine wilde Körperschaft kennen zu lernen. Noch etwas weiter nördlich hätte er schon eine Uniform gebraucht; hier genügte eine Visitkarte ... Nur die Behörden sind neugierig und verlangen auch einen Meldzettel. Wie mag ihn der Prinz von Liberia ausgefüllt haben? Im Blitzlicht seines Witzes — er enttäuscht die Justiz wie eine Büfettdame — wird uns Wienern manches heller. Wie schlagfertig dieser Nigger in die Amtshandlung der Komödie eingreift! »Als der Präsident ihn fragt, ob er ledig oder verheiratet sei, lacht der Angeklagte laut auf und zieht ein rotes Taschentuch hervor, das er sich in den Mund stopft.« Er fühlt, daß jene Feststellung für den Beweis, daß ein Prinz von Liberia Zechprellerei begangen habe, unerläßlich ist. Und er hat schon aus der Untersuchungshaft an einen Landsmann einen Brief geschrieben, in dem es heißt: »Ich bedaure es ungeheuer, in ein Land gekommen zu sein wo man so viel über das Vorleben der Menschen wissen will. Ich weiß nicht, warum; aber die Gesetze sind hier so.«

Vgl.: Die Fackel, Nr. 218, VIII. Jahr
Wien, 5. Februar 1907.