Notizen
Juli 1902
Die Geschwornen sprachen nicht per jus
Die Geschwornen sprachen nicht per jus, aber mit Recht eine überwiesene Brandlegerin frei. Der Fall lag für den Psychologen ungemein einfach. Der faszinierende Einfluß einer männlichen Siegernatur — die blinde Ergebenheit einer zarten, neurotischen, wenn man will, »krankhaft veranlagten« Frauenseele. Zufällig kleiner Miedermacher und Verkäuferin. Nächstens Tenor, Bereiter oder Leutnant und Gräfin, Zofe oder Hausfrau; Christ und Jüdin, Jud und Christin. Diesmal hat die Siegernatur nach der Versicherungssumme verlangt, und die Frauenseele steckte das Geschäft in Brand. Aber auch Strindbergs Comtesse Julie hätte im Rausch der Johannisnacht dem Kammerdiener ihres Vaters auf Verlangen mehr als ihre Jungfräulichkeit geopfert. Beruf, politische Gesinnung und Konfession spielen in solch animalischem Verhältnis keine Rolle. So sollte man meinen — wenn man nicht in Österreich lebte, dem Lande, wo selbst das Allzumenschliche unter dem Gesichtswinkel der Parteiverblödung betrachtet wird. Wir unterscheiden nun eine liberale, eine antisemitische und eine sozialdemokratische Parteiverblödung. Die sozialdemokratische macht sich in einem Gerichtssaalbericht bemerkbar, in dem zehnmal hintereinander das Wort »Unternehmer« steht. Hier ist es der Unternehmer, der auch die Seele der Arbeiterin ausbeutet und diese zum Verbrechen treibt. Was sagt der antisemitische Gerichtssaalbericht? »Ein Opfer jüdischer Verführung.« Das arme Christenmädchen und der jüdische Lüstling. Mahnung für alle Christinnen, den Verkehr mit Juden zu meiden ... So hat denn der Liberalismus gebundene Marschroute. Er ist weder gegen den Unternehmer noch gegen den Juden. Aber er nimmt, wenn er die Wahl zwischen dem brutalen »Herrn der Schöpfung«, und möge er auch nur ein Überkommis sein, und der getretenen Frauenseele hat, immer für jenen Partei. Er verzeiht alles, er verzeiht Betrug und Wucher, nur sündige Liebe kann er nicht verzeihen. »Der Umstand, daß Marie Schuh freiwillig die Geliebte des Chefs war, entzieht ihr das Mitleid, auf das sie sonst im reichsten Maße Anspruch gehabt hätte.« Der freie Wille des Käthchens von Heilbronn, dem’s niemand »geschafft« hat, dem Grafen Wetter nachzurennen, ist über allen Zweifel erhaben.
Vgl.: Die Fackel, Nr. 109, IV. Jahr
Wien, Anfang Juli 1902.