Mai 1907
Die Geschichte einer Verhaftung
Die Polizei-Anstalten in einer gewissen Stadt lassen sich füglich mit den Klappermühlen auf den Kirschbäumen vergleichen: sie stehen still, wenn das Klappern am nötigsten wäre, und machen einen fürchterlichen Lärm, wenn wegen des heftigen Windes gar kein Sperling kommt.
Georg Christ. Lichtenberg.
Es hat sich oft gezeigt, daß die Wiener Sicherheitsbehörde eifrig bemüht ist, den zu einer Verhaftung erforderlichen Tatbestand zu finden, und daß sie dafür in jenen zahlreichen Fällen, in denen ein Tatbestand schon vorliegt, auf die noch erforderliche Verhaftung verzichtet. Manchmal aber kommt es sogar vor, daß sie bei einem glücklichen Zusammentreffen von Tatbestand und Verhaftung diese freiwillig wieder ungeschehen macht und sich’s an jenem genügen läßt. Die Fälle Liebel und Stift liegen weit zurück. Aber wegen eleganter Kleidung wurden in der Nach-Riehlschen Epoche zwei Mädchen verhaftet und, weil sich das zur Eleganz gehörige Betrugsfaktum nicht entdecken ließ, durch Wochen aus einem Polizeiarrest in den andern geschleppt. Dafür kassierte ein gaunerischer Zeitungsausträger in den Verschleißstellen den Erlös einer Nummer der ’Fackel’ ein, die wegen Ehrfurchtsverletzung des Staatsanwalts vor der Majestät der Satire konfisziert worden war, und schädigte die Firma, die den Einzelverkauf der Zeitschrift vermittelt, auf das schwerste. Er wurde zwei Tage nach der Anzeige verhaftet. Aber zwei Tage nach der Verhaftung enthaftete ihn die Polizei, offenbar weil er noch den Rest des Erlöses jener ›Fackel‹-Nummer einzukassieren hatte. Wieder ging er von Verschleiß zu Verschleiß und dankte Gott, daß es eine Polizei gibt. Auf die bestürzte Anfrage der geschädigten Firma über den Grund der Enthaftung, die sie zunächst sogar um die Aussicht auf eine genaue Feststellung des Schadens brachte, wußte man in der Polizeidirektion keine Antwort zu geben. Vielleicht war man dort im guten Glauben, die ›Fackel‹ selbst sei geschädigt worden, und wollte dem verdienstvollen Manne entgegenkommen, der die administrative Verwirrung, die der Staatsanwalt schafft und die die k.k. Schlamperei bei Ausstellung der Konfiskationsbestätigungen vermehrt, durch die Unterschlagung dieser höchst unsicheren Zertifikate ins Unermeßliche gesteigert hat. Aber ich will gern glauben, daß das Motiv für die Enthaftung des Gauners und für die behördliche Vorschubleistung zu weiteren Gaunereien nicht Böswilligkeit, sondern bloß jene Eigenschaft war, gegen die Götter vergebens kämpfen und die als ein Geburtsfehler der österreichischen Bureaukratie weitestgehende Berücksichtigung verdient. Trotzdem konnte ich mich zunächst eines gewissen bittern Gefühls nicht erwehren bei dem Gedanken, daß ein Wiener Verbrecher, selbst wenn er einmal erwischt worden ist, seinem Erwerb nachgehen darf, während das Klavier, das nach dem Prozeß Riehl in einem Wiener Bordell verhaftet wurde, in sicherem Gewahrsam ist. Es kann auch nicht davonlaufen. Wie anders der Gauner, den die Polizei verhaftet, enthaftet und nun — wer beschreibt mein Erstaunen — glücklich wieder verhaftet hat! Denn die Polizei entschloß sich, einen neuen Haftbefehl zu erlassen und sie schickte sich an, den Gauner zu suchen, den sie schon einmal vergebens gefunden hatte. Ihr gelang es tatsächlich, ihn zu erwischen, und alles wäre in Ordnung gewesen, wenn es nicht fast gleichzeitig ihm gelungen wäre, ihr zu entwischen. Er entsprang bei der Eskortierung. Kann man der Polizei daraus einen Vorwurf machen? Kupplerinnen, die durch ein Kaffeehausklosett nach Ungarn fliehen und den »Vertrauten« wochenlang auf der Straße warten lassen, machen der Behörde das Leben schwer genug. Und wenn ein Gauner, den man zum zweitenmal hat, an irgendeiner Straßenbiegung sich’s überlegt und doch lieber nicht mitgeht, so kann eben die Polizei auch nichts tun. Sie wird sich gewiß freuen, zu hören, daß es dem Mann gut geht, daß er einen Posten bekommen und sich neulich über den Chef des Sicherheitsbureaus ungemein lobend geäußert hat. Somit wäre alles zu gutem Ende gediehen. Und wiewohl der geschädigten Zeitungsfirma selbst die Unterscheidung zwischen verkauftem, konfisziertem und gestohlenem Wert unmöglich gemacht ist, so hat sie doch immerhin in Erfahrung bringen können, daß ein »dicker Kommissär« es war, der die Enthaftung angeordnet hat. Nur die Identität mit jenem trefflichen Mann, auf den sich das geflügelte Wort der Frau Riehl bezieht, war bisher nicht festzustellen.
Vgl.: Die Fackel, Nr. 226, IX. Jahr
Wien, 22. Mai 1907.