Dezember 1906
Welthistoriker melden
Welthistoriker melden: Signor Caruso, der größte Tenor der Welt, wurde im Affenhaus des Zoologischen Gartens von New-York verhaftet. Ein Polizist beobachtete den Sänger, wie er einer ihm unbekannten Dame, die dagegen protestierte, in Gegenwart ihres Söhnchens handgreifliche Zärtlichkeiten aufdrängte. Caruso, der alles bestreitet, fiel weinend Conried um den Hals. Die Parkpolizisten sagen aus, daß sie von fünf ähnlichen Fällen, in denen Caruso sich an Frauen herandrängte, wissen, und behaupten, ihn schon einmal aus dem Affenhaus wegen eines gleichen Angriffs hinausgeworfen zu haben. Carusos Rechtsbeistand rief aus: »Es ist unwahr, daß Signor Caruso eine falsche Tasche in seinem langen Überzieher hat, durch die er seine Finger stecken und Leute berühren kann, während er seine Hände in den Taschen zu haben scheint.« Die Dame, die sich diesmal von Herrn Caruso merkwürdigerweise nicht um die Hüfte fassen lassen wollte, habe dem größten Tenor der Welt zugerufen: »Tun Sie das nicht noch einmal!« Nein, nicht einmal zur Wiederholung verlangt! Aber so traurig diese Erfahrung ist, die Rückentwicklung eines Tenors aus dem Wiener Opernhaus ins New- Yorker Affenhaus ist immerhin eine interessante biologische Tatsache. Auf der Bühne gehen die sexuellen Attacken über das hohe C nicht hinaus, im Leben muß eine anschaulichere Praxis die Stimmentfaltung ersetzen. Wer freilich die Beziehungen zwischen der Tenorstimme und den weiblichen Geschlechtsnerven einigermaßen kennt, hätte sich schon für eine Verhaftung Carusos im Opernhaus aussprechen müssen. Vorausgesetzt, man ist davon überzeugt, daß die Frauen die fast handgreiflichen Zärtlichkeiten eines Kehlkopfs als Belästigung empfinden. Das tun sie nun freilich nicht. Aber jedenfalls muß die öffentliche Meinung New-Yorks gegen die öffentliche Meinung Wiens in Schutz genommen werden. Das amerikanische Schamgefühl mag ja eine garantiert solide Sache sein, über die man sich auf unserm alten Kontinent lustig machen darf, und es mag wahr sein, daß drüben über hundert europäische Defraudanten mehr Freude ist, als über einen europäischen Wüstling. Trotzdem muß gesagt werden, daß in der Affenkomödie des Herrn Caruso ausnahmsweise nicht jenes Gefühl die Hauptrolle gespielt hat, das man in kultivierten Zonen als »sittliche Entrüstung« mit Recht verabscheut. Im Gegenteil scheint mir ein Gefühl für sexuelle Freiheit den ganzen Rummel bewegt zu haben. Nur die Flachköpfe unserer liberalen Presse halten es für Prüderie, wenn die amerikanischen Frauen einen Angriff auf ihr sexuelles Selbstbestimmungsrecht zurückweisen. Ich weiß nicht, nach welchem Gesetz Herr Caruso verurteilt wurde, aber ich vermute, daß nicht die öffentliche Schamhaftigkeit, sondern das Recht des Individuums, sich betasten zu lassen, von wem es selbst betastet sein will, gegen die Zärtlichkeit des großen Mannes geschützt werden sollte. In Amerika wahrt man den sexuellen Anspruch der Frau, indem man sie vor sexueller Ansprache schützt. Bei uns dürfen bloß die Herren der Schöpfung ihre Geilheit auf der Straße spazieren führen, dürfen Frauen anpöbeln, die von ihnen nicht beglückt sein wollen, und ein unbeteiligtes Publikum an den Exhibitionen ihrer Luchsaugen teilnehmen lassen. Man muß nur ein paar Mal diese Zudringlichkeit verglaster Blicke — wenn man mit einer Frau etwa ein Theater oder ein Restaurant betritt — erlebt haben, um die amerikanische »Prüderie«, die das Bett eben nicht als die Domäne des Mannes anerkennt, für eine kulturvollere Erscheinung zu halten als die mitteleuropäische Verfemung sinnlicher Frauen. Und bezeichnend für den Idiotismus, mit dem man hierzulande eine Frage der Freiheit als eine Frage der Moral auffaßt, ist der journalistische Eifer, der dem Lebenswandel jener Mrs. Graham nachspürt, um dem sexuellen Übergriff des Herrn Caruso eine mildere Beurteilung zu sichern. In New-York würde ein Wiener »Steiger« wegen Belästigung einer Kokotte nicht anders behandelt werden, als Herr Caruso wegen Belästigung einer Mutter. Aber die ›Neue Freie Presse‹ entsetzt sich darüber, daß »bei der Verhandlung nicht einmal nähere Mitteilungen über die Person der Mrs. Graham gemacht wurden, und ob ihre Vergangenheit eine makellose sei«. Ist sie es nicht, so war Caruso nach österreichischer Auffassung womöglich berechtigt, das Kind, das Mrs. Graham an der Hand führte, als der Sänger sie abknutschte, zugleich über die Vergangenheit der Mutter aufzuklären. Das ist der Standpunkt der Leute, die es erst einen »Mißgriff« nennen, wenn die Polizei irrtümlich statt einer Prostituierten eine Frau der Gesellschaft drangsaliert hat. Und das ›Extrablatt‹ verlangt ausdrücklich, daß »die Belästigung anständiger Frauenspersonen auch bei uns der gerichtlichen Ahndung unterliegen solle« — so daß also eine Erweiterung der sittenrichterlichen Befugnis unserer Justiz die Folge wäre und jeder Lumpenkerl wenigstens erreichen könnte, daß die Tugend, auf die er es abgesehen hatte, gerichtsärztlicher Prüfung unterzogen werde. So sittenstreng wie das ›Extrablatt‹ denkt auch Herr Caruso. »Er habe Frau Graham bemerkt, doch habe er sich von ihr sofort abgestoßen gefühlt; denn sie, nicht er, habe sofort mit Avancen begonnen, welche er dahin deuten mußte, daß sie keine anständige Frau sei.« Diese Edelmänner wollen natürlich nur mit »anständigen Frauen« zu tun haben, wenn es sich ihnen um eine Unanständigkeit handelt. Und welcher Spießer wüßte den Spieß nicht im geeigneten Moment umzudrehen? Wer immer er sei, sein Zeugnis fände Glauben. »Sehen Sie her«, beteuerte so einer vor dem diensthabenden Sergeanten der Polizeistation, »ich bin Caruso, der große Tenorist!« ... Er war es wirklich. Denn ein Zeuge gab in der Verhandlung an: »Caruso versteht nicht englisch. Vielleicht, wenn ich zu ihm sage, Caruso, wollen Sie Luncheon mit mir einnehmen, versteht er mich. Er versteht auch: Wie geht’s? Schönes Wetter! Frühstück, Dinner; aber wenig mehr.«
Vgl.: Die Fackel, Nr. 213, VIII. Jahr
Wien, 11. Dezember 1906.