Ein juristisches Blatt
Ein juristisches Blatt hat zugeben müssen, daß die Geschichte der Wiener Sittenpolizei in zwei Epochen zerfalle: die erste beginne mit der Gründung der Ostmark durch Karl den Großen, die zweite mit dem Prozeß Riehl. Aus der zweiten hebt es ein Ereignis hervor, das ein künftiger Gindely mindestens im Kleingedruckten verzeichnen wird: Wie ein Mann, der auf das Polizei-Kommissariat des vierten Bezirkes eskortiert wurde, weil er im Verdachte des außerehelichen Beischlafs mit einer Frau stand, der man nichts geringeres als clandestine Prostitution nachweisen wollte, sich die miserable Beleuchtung des Amtszimmers zunutze machte, um zu entwischen ... Nicht minder glücklich ward im siebenten Bezirk die Verhaftung der Kupplerin H. durchgeführt. Der peinliche Eindruck, den man von diesem krassen Akt polizeilicher Undankbarkeit empfing, wurde einigermaßen durch das Entgegenkommen jenes Amtsorgans gemildert, das, wie in kriminalistischen Kreisen behauptet wird, seit vier Wochen vor dem Kaffeehaus wartet, in dessen Klosett sich die Verhaftete auf dem Weg zum Polizeiamt zurückgezogen hat ... Fallen seh’ ich Zweig’ auf Zweige. Und dennoch darf man dem Gerücht nicht glauben, daß die Behörde gegen die Kupplerinnen bloß deshalb so streng vorgehe, weil sie »der Sachs« die Konkurrenz vom Hals schaffen wolle ... Ein rührender Zug: Die Polizei hatte also aus dem Prozeß Riehl erfahren, daß in einem tolerierten Hause Ausbeutung, Freiheitsberaubung, hygienische Verwahrlosung geherrscht habe. Aber sie fand in den anderen Häusern, die schleunigst untersucht wurden, nichts, was zu beanstanden gewesen wäre. Nur in einem einzigen wurde des Übels Wurzel entdeckt und beseitigt: — das Klavier! Ein christlich-soziales Blatt hatte verlangt, daß die Prostitution des Sinnenkitzels entkleidet werde, und so verfügte die Polizei, daß wenigstens das Klavier aus dem Salon in die Rumpelkammer überführt und mit einem Tuch verhüllt werde. In stumpfer Ergebung sitzen die Mädchen und warten, bis wieder musikalischere Zeiten in Wien anbrechen. Der Kampf der Polizei gegen die Unsittlichkeit endet mit einem Sieg: Ein Bordellklavierspieler ist brotlos.
Vgl.: Die Fackel, Nr. 222, VIII. Jahr
Wien, 27. März 1907.