Juli 1906
In die Volksschullesebücher
In die Volksschullesebücher kommender Zeiten wird zur Illustrierung des Sprichwortes: »Üb’ nimmer Treu und Redlichkeit« die folgende Geschichte aufgenommen werden: »Vor einem Wiener Bezirksgericht hatte sich ein Fahrradhändler wegen bedenklichen Ankaufes zu verantworten. Er hatte nämlich auf ein Fahrrad, das ihm zum Kaufe angeboten worden war, eine Anzahlung von zwanzig Kronen geleistet, den Restbetrag von vierzig Kronen dem Verkäufer nachgesandt und gleich darauf eine Anzeige bei der Polizei freiwillig erstattet, weil ihm nachträglich Bedenken aufgestiegen waren. Es stellte sich auch heraus, daß das Rad einem Rechnungsfeldwebel gestohlen worden war. Nunmehr wurde gegen den Fahrradhändler die Anklage wegen bedenklichen Ankaufes erhoben. Nach Feststellung des Tatbestands verurteilte ihn der Richter — es war der Doktor Schachner — zu einer Geldstrafe von hundert Kronen. Bei der Verkündigung des Urteils geriet der Verurteilte in große Aufregung und schrie: ›Das ist eine Ungerechtigkeit; das lasse ich mir nicht bieten! Ich erstatte die Anzeige und werde verurteilt! Unerhört!‹ Da er trotz allen Begütigungsversuchen nicht zu beruhigen war und fortlärmte, wurde er überdies noch zu einer Disziplinarstrafe von 24 Stunden verurteilt, die er sofort antreten mußte.« Und die Schüler werden erkennen, daß das Urteil bedenklicher war als der Ankauf. Tatsächlich bestärkte es damals viele Fahrradhändler in dem Entschluß, bei bedenklichen Ankäufen doch lieber zu warten, bis diese von anderen angezeigt werden. Die »bedenklichen Ankäufer« wurden nicht alle, aber sie wußten sich wenigstens der Strafe, die auf die Anzeige gesetzt war, zu entziehen. Es war eine merkwürdige Zeit, in der eine merkwürdige Rechtsmoral regierte. Hätte der Fahrradhändler die 60 Kronen, um die er geschädigt wurde, irgendjemand veruntreut und vor der Anzeige zurückgegeben, so wäre ihm nichts geschehen. Da er selbst der Geprellte war und selbst die Anzeige erstattete, müßte er büßen ... »Hütet euch also!«, schließt das Lesestück, »die Reue ob einer ehrlichen Tat kommt zu spät.«
Vgl.: Die Fackel, Nr. 207, VIII. Jahr
Wien, 23. Juli 1906.