Das ›Extrablatt‹ ist bekanntlich das Organ
Das ›Extrablatt‹ ist bekanntlich das Organ für Raubmörder und verwandte Berufe, warnt aber eindringlich vor der Kuppelei. Seit seinem Erfolg im Prozeß Riehl versäumt es keine Gelegenheit, die Wiener Einbrecher, die die Polizei nicht finden kann, weil die Abonnentenliste des ›Extrablatts‹ geheimgehalten wird, mit der Enthüllung zu überraschen, daß in einem Bordell außerehelicher Beischlaf getrieben wurde. Das ›Extrablatt‹ schützt die Interessen der Familie gegen den Mädchenhandel. Da es sich aber allzu hastig auf jede Affäre stürzt, in der es sich um die Verschleppung eines Bürgermädchens in ein Freudenhaus handeln könnte, so passiert ihm manchmal etwas Menschliches. Von stofflicher Witterung gelockt, hatte es sich neulich wieder eines Falles bemächtigt, der die sentimentale Kontrastierung des Lotterlebens in einem »verrufenen Hause« mit der Gesellschaftsordnung, der zwei Mädchenblüten entpflückt wurden, zu ermöglichen schien. Aber siehe da, zum Schlüsse des Artikels stellte sich heraus, daß die »Madame Rosa« alle Mühe gehabt hat, die Mädchen, die bei ihr vorgesprochen hatten, der Familie wiederzugeben, und daß die Tante es war, die auf deren Eintritt in das berüchtigte Haus den denkbar größten Wert legte. Die Hoffnungen der Tante haben sich leider nicht erfüllt. »Eine ältere Dame empfing uns«, erzählte eines der von der Madame Rosa geretteten Mädchen, »und führte uns durch zahlreiche Zimmer und schließlich in einen Salon, in welchem ein großer Tisch gedeckt war. Wir speisten in Gesellschaft von etwa fünfundzwanzig Mädchen, die sich in dem Hause befanden. Bei Tisch ging es ziemlich laut her und es wurde ein sehr triviales Gespräch geführt. Ich hatte bald das Gefühl, daß wir an einen schlechten Ort geraten waren. Als das Diner zu Ende war, befragte ich die ältliche Dame, welche das Regime zu führen schien, über die Beschaffenheit dieses Hauses. Es wurde mir eine aufrichtige Antwort zuteil; die Dame sagte sogar, daß sie uns, wenn wir keine Dokumente haben, auch nicht im Hause behalten könne. Ich erfaßte diese Gelegenheit und sagte, daß wir über keinerlei Schriften verfügen, man möge uns daher entlassen. Meine Bitte um Entlassung wurde sofort erfüllt und alsbald befand ich mich mit meiner Freundin wieder auf der Straße. Wir waren froh, so leicht wieder entkommen zu sein.« Der Verein zur Bekämpfung des Mädchenhandels wird sich aller Voraussicht nach diese Konkurrenz einer Bordellinhaberin nicht gefallen lassen. Aber man glaubt gar nicht, welche Mühe es oft dem Mädchenhandel kostet, ein Opfer der Familie auf den rechten Weg zu bringen. Die Familie stellt sich die Ergreifung der Karriere einer Prostituierten in den meisten Fällen viel zu leicht vor. Wie kann man nur ein junges Mädchen ohne jedes Dokument nach Wien zur Madame Rosa schicken! Gäb’s keine polizeilichen Lizenzen, so könnte ja eine jede hergelaufene Familientochter hineinkommen und die Madame Rosa wüßte nicht, wie sie die Würdigen berücksichtigen sollte ... Das ›Extrablatt‹ aber pries in entrüstetem Ton das Walten einer Bordellinhaberin, die da verhindert, daß sich die jungen Mädchen in hellen Haufen der Prostitution ergeben.
Vgl.: Die Fackel, Nr. 232-233, IX. Jahr
Wien, 16. Oktober 1907.