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Die Kinderfreunde1

November 1905

Wir werden den Eindruck nicht mehr vergessen. Wir unverdorbenen Kinder unserer Zeit haben gesehen, wie der leibhaftigen Justiz unter die Röcke gegriffen wurde. Sie hatte die Augen verbunden und wußte nicht, wie ihr geschah. Wäre sie Jungfrau, wüßte man nicht, daß sie oft schon den Wünschen hochmögender Herren erlegen, oft schon ins Kabinett gegangen ist, die Tat müßte an Tätern und Helfern schwer geahndet werden. Weil aber die routinierte Dame das Vergnügen längst stärker als die Schmach empfindet, so bleibt das Gefühl peinlichen Erlebens der unmündigen Zeugin Öffentlichkeit überlassen. Wie wird sie mit den Eindrücken, die sie in der Dunkelkammer des Gerichtssaals empfangen hat, fertig werden? Wie werden die Väter jener Kinder, die gierig nach den Zeitungsberichten über den Prozeß Beer gelangt haben, sich mit den Amateurphotographen der Gerechtigkeit abfinden, die in den Alkoven ihres Hauses die öffentliche Meinung luden und sie an den Aufnahmen unzüchtiger Tatbestände sich delektieren ließen? Ist solche Öffentlichkeit geheimer Verhandlungen nicht strafwürdig? Ist der perverse Einfall, Vertreter der Wiener Presse als Vertrauensmänner zuzulassen, nicht dem Hirn eines ausgepichten Justizwüstlings entsprungen? Ach, die österreichischen Ereignisse kommen mit ihrer Kraft der Antithese schon als Satire zur Welt, und ein Satiriker, der ihre künstlerische Gestaltung erstrebt, muß eher mildern, als übertreiben ... Wenn Professor Theodor Beer wirklich das getan hat, wessen er angeklagt wurde, wenn er zwei Knaben an Körper und Seelenheil gegriffen hat, — läßt sich sein Verschulden mit der familienfeindlichen Unmoral vergleichen, die die Führer und Förderer dieses Prozesses auf dem Gewissen haben? Was sind die Obszönitäten, die im Hause Beer den Kindersinn verwirrt haben sollen, neben den anderen, die diese Gerichtsverhandlung den Kindern aller Familien gezeigt hat, in denen ›Neue Freie Presse‹ oder ›Deutsches Volksblatt‹ die tägliche Belehrung und Erbauung besorgen? Was bedeutet die Gemütsdepression des kleinen Oskar, unter der die Wiener Öffentlichkeit seit zwei Jahren leidet, neben jenem Zustand, in den die Gesellschaft versetzt wird, wenn der Familiensinn seine Scham entblößt und die Gerechtigkeit auffordert, Selbstbefleckung zu treiben?

Das Verschulden eines Angeklagten ist erst zu bestimmen, wenn die Schuld seiner Kläger und Richter vor den Augen einer überprüfenden Öffentlichkeit geklärt ist. Nie noch hat ein Sittlichkeitsprozess schwerere Unsittlichkeit erzeugt, nie ist eine Anklage wegen Perversität verkehrterem Fühlen entsprungen. Die Wiener Moraljustiz arbeitet gründlicher als die Wiener Kehrichtwalze: sie verbreitet den Schmutz nicht bloß, sie vermehrt ihn. Wenn wir an den Feststellungen des Gerichtsverfahrens nicht rütteln, wenn wir die Depositionen kindlicher Erinnerung als Zeugenaussagen achten wollen, welch heilloser Skandal bleibt das Vorgehen jener bedenklicheren Kinderfreunde, die zwei Knaben in den Löwenrachen großstädtischer Sensation gesteckt, die den seelischen Schaden, den diese heimlich empfangen hatten und öffentlich bestätigen mußten, hundertfach vergrößert haben! Den Angeklagten zu überführen, hat es eines Zeugenbeweises bedurft, hat die Aussage zweier Kinder genügt. Aber zur Belastung seiner Ankläger genügt schon die Anklage. Wer hat den armen Jungen übler mitgespielt: der Photograph, der sie im Atelier, oder die Väter, die sie im Gerichtssaal entkleidet haben? Als Oskar und Gustav das erstemal an ihrer Seele Schaden nahmen, haben sich ihre Familien für sie zu interessieren begonnen. Nun sind sie, an der Schwelle der Mannbarkeit, zu öffentlichen Figuren geworden: von der Neugierde ihrer Lern- und Spielgenossen geplagt, auf dem Weg ins Leben von der Teilnahme einer Gesellschaft begleitet, die den Helden der Skandalprozesse treuere Erinnerung bewahrt als den Helden der Barrikade. Solch frühreifer Ruhm ist leichter zu erwerben als zu ertragen. Die kleinen Prostituierten, die die Weisheit der Staatsbehörde im Berliner Sternberg-Prozeß den Lüstlingen vorführte, sind im Preise gestiegen. Den kindlichen Zeugen des Beer-Prozesses, bei denen die Nachfrage keinem Angebot entspricht, steht ein größerer Erfolg bevor. Hoffentlich wird die prompte Sicherheit, mit der die Knaben dem gerichtlichen Verhör Stand gehalten haben, sie nicht verlassen, wenn weitere Anfechtungen sie zwingen sollten, den Arm der Gerechtigkeit herbeizurufen. Ich glaube nicht, daß es an Gelegenheit fehlen wird, und es mag wahrlich nicht immer leicht sein, bei Behörden Glauben zu finden, zumal wenn es gilt, sich der schmeichelhaftesten Anträge der ersten Päderasten der Monarchie zu erwehren ... Der »Vater des zweiten Knaben« gab an, daß ihn — in seinem Verkehr mit dem Angeklagten — vor allem eine Äußerung des Professors Beer »mit Mißbehagen erfüllt habe«: daß »die größten Feinde der Kinder die Eltern« seien. Welche Großmut ließ ihn dies Wort des Gegners zitieren! Wenn ihn etwas mit dem Verführer seines Kindes versöhnen könnte, mag es die späte Erkenntnis sein, daß der Angeklagte in diesem wie in keinem andern Falle Recht gehabt hat.

Der »Vater des ersten« und der »Vater des zweiten Knaben«, der »Vater des eben vernommenen« und der »Vater des zuerst vernommenen Knaben« ... Die vornehme Presse hat bloß den Namen des Mannes genannt, der die Knaben nackt photographiert hat, aber nicht die Namen der Kinderfreunde, die sie nackt ausstellten. Sie heißen Steger und Freund. Dieser ist bloß Hof- und Gerichtsadvokat, jener auch Regierungsrat und Mitbesitzer einer Kunstbutterfabrik, aus deren Vorrat er den Glanz seiner Plaidoyers bezieht. Sein strafrechtliches Wissen hat schon in der Vorgeschichte des Prozesses Beer einen Triumph erlebt, dem ich mit einer Definierung des Begriffes »Erpressung« gerecht zu werden suchte. »Er reißt fort, wenn er will«, heißt es in Schmocks Dekameron der Zierden unseres Barreaus, »um ein anderes Mal eine Sache gänzlich fallen zu lassen.« Diesmal war er, da er die eigene Sache vertrat, so bescheiden, sie gänzlich fallen zu lassen. »Herr Regierungsrat Steger«, schreibt sein Biograph, »hat den Mut, den ich ihm in der heutigen Zeit hoch anrechne, mit Stolz sich als Jude zu bekennen. Er saß, solange man es ihm nicht verekelte, sogar im Vorstande der Kultusgemeinde und legte flammenden Protest ein gegen die Ritualmordverdächtigung, trotzdem er Regierungsrat war. Er hatte jedenfalls den Mut seiner Überzeugung.« Ich glaube, daß er bloß die Überzeugung seines Mutes hat. Denn Regierungsrat wurde er, als man seine Fähigkeit entdeckte, mit einem Erzherzog vierhändig Klavier zu spielen, aber seine Stelle im Vorstand der Kultusgemeinde legte er nieder, als man »es ihm verekelte«. Seine äußere Erscheinung im Verein mit seinen musikalischen Fähigkeiten weist darauf hin, daß nicht nur sein Wort, sondern auch seine Stimme in der Gemeinde Geltung hat: man würde ihn, seitdem der Talar eingeführt ist, auf den ersten Blick für eine Art Oberkantor in Strafsachen halten. Alles an dem Mann ist »sonor«. Und alles in eine Sonnenthal’sche Temperatur warmen Wohlwollens getaucht, in der die Kunstbutter zergeht, die man auf dem Kopfe hat. Wehe dem aber, der sich das Wohlwollen des Vaters — das Wort muß Tränen erpressen — verscherzt! Des Vaters, der nicht nur einen unmündigen Sohn, sondern auch eine heiratsfähige Tochter hat. Weh dem, der mit dem unmündigen Sohn vorlieb nimmt und die heiratsfähige Tochter eines andern Vaters heiratet! Wehe dem Vater, der seinen Sohn also handeln läßt! Ein Advokat, der einmal im Vorstand der Kultusgemeinde war, ist ein Gott der Rache, der da ahndet, was an den Kindern gesündigt wurde, bis ins dritte Geschlecht und bis zur letzten Instanz. Denn es steht geschrieben: »Ihre Tochter sollst du nicht für deinen Sohn nehmen. Denn sie würde deinen Sohn abwendig machen, daß er anderen Göttern diente; und der Herr würde zürnen über euch, und dich eilends vertilgen«. In eine getäuschte Hoffnung haben die Schriftgelehrten des Falles Beer-Steger-Eißler, die Exegetiker dieser zwischen den Familien eines Eskomptegeschäfts, einer Holzfirma und einer Margarinfabrik spielenden Sensation, haben die Ältesten des Franz Josefs-Kai den Ursprung der Bibelrache verlegt. Sie führt dann zu den folgenden Verkündungen, die man wörtlich in den fünf Büchern und ähnlich in den zehn Zeitungen Mosis nachlesen kann: »Und bei einem Manne sollst du nicht schlafen, wie bei einem Weibe; ein Abscheu ist dies ... Und kein Tier sollst du beschlafen, und dich damit verunreinigen. Und ein Weib soll sich nicht vor ein Tier stellen, sich mit ihm zu begatten; dies wäre eine schändliche Befleckung ... Du sollst dir kein Abbild machen von irgend Etwas ... Ihr sollt eure Haare nicht ringsum am Ende abscheren; und du sollst von den Enden deines Bartes nichts abnehmen ... Mannes Kleider soll ein Weib nicht anziehen; und ein Mann soll keines Weibes Kleider anziehen; denn ein Gräuel des Herrn, deines Gottes, ist Jeder, der dies tut ... Hüte dich, daß du nicht vergessest des Herrn, deines Gottes, wenn du gegessen hast, und satt bist, und schöne Häuser bauest, und darin wohnest ... Wenn du ein neues Haus bauest, so sollst du ein Geländer um dein Dach machen, daß du nicht Blutschuld auf dein Haus ladest, wenn etwa Jemand herunterfiele ... Wenn Jemand ein Weib nimmt und ihr beiwohnt, aber sie nachher hasset, und ihr schändliche Dinge aufbürdet, und einen üblen Ruf über sie ausbringt, so sollen die Ältesten der Stadt den Mann nehmen und ihn züchtigen ... Flieht Jemand in eine dieser Städte, so sollen die Ältesten hinsenden, um ihn von dort zu holen, daß er sterbe ... Denn in seiner Zufluchtsstadt hätte er bleiben sollen, bis der Hohepriester gestorben war ... Ein einzelner Zeuge soll nicht aufstehen gegen Jemand, wegen irgend einer Missetat und irgend eines Vergehens, bei allen Sünden, die er begeht; durch die Aussage zweier Zeugen werde eine Sache bestätigt ... Du sollst keinen Wucher nehmen von deinem Bruder, Wucher von Silber, Wucher von Speise, Wucher von sonst etwas, womit man wuchern kann. Von Fremden darfst du Wucher nehmen ... Heil dir, Israel! wer ist, wie du? Volk, beglückt von dem Herrn, dem Schilde deiner Hilfe, und der das Schwert deiner Hoheit ist, es schmeicheln dir deine Feinde, aber du trittst auf ihre Höhen! ...«

Sollte das Gerichtsverfahren, dem Herr Dr. Beer in diesem Chaos von Päderastie, Sodomie und Photographie, von Friseurkunst und Architektur, von Selbstmord, Verrat, Steckbrief, Reichtum und Übermut erlag, nicht ein wenig jenem Gotte, der da ahndet, geopfert haben? Der Angeklagte war von seinem vielgeschmähten ersten Anwalt, der ihn in die Flucht jagte, besser beraten, als von seinem Dr. Bachrach, der ihm für ein Honorar von hunderttausend Kronen den Sieg versprach. Herrn Zweigenthals Worte: »Es ist schade, daß du nicht schuldig bist, denn es ist unter Umständen leichter, einen Schuldigen frei zu bekommen, als einen Unschuldigen; wärest du schuldig, würde man die ganze Sache einfach in die psychiatrische Gasse bringen und beweisen, daß du nicht normal bist« — sind nicht, wie die antisemitische Preßhorde brüllt, der Ausdruck jüdischer Advokatenmoral, sondern bloß einer Erfahrung, die den Wahnsinn der Sexualjustiz so oft durch die Unmoral der Psychiatrie paralysiert sah. Welcher einsichtige christliche Anwalt würde seinem Klienten mit anderer Auffassung dienen? Herr Regierungsrat Bachrach glaubte es mit seinem eigenen Einfluß probieren zu können. Er hat ihn nicht ohne Erfolg für das Interesse der Gegner verwendet. Vor allem setzte er, dem ein Verteidigerruhm ohne Herolde standeswidrig schien, seinem Klienten die Wiener Publizistik in den Pelz. Und er erreichte, daß der Klient mit den Anklägern einen Vergleich schloß, der seine ruhige Verurteilung garantierte. Die Väter würden ihn bloß mit dem allernotwendigsten belasten, als schlichte Zeugen, nicht als Privatbeteiligte ihm gegenüberstehen. Um solchen Preis hat der Angeklagte auf die Gelegenheit verzichtet, in das psychologische Dunkel, in dem die Anschuldigung erst konkrete Form gewann, Klarheit zu bringen. Diese Passivität und noch zwanzigtausend Kronen Honorar für den Anwalt der Väter sollten einen Freispruch nach sturmloser Verhandlung ermöglichen, in der die sachliche Widerlegung sachlicher Aussagen den Gerichtshof von der Unschuld des Angeklagten über zeugen würde. Die Vornehmheit, die Herr Dr. Bachrach in der Berührung mit dem Schmutz der Hoheiten erlernt hat, war von Übel. Ein Regierungsrat hackt dem andern kein Auge aus, aber der Angeklagte bekam bloß die Nachteile jenes Abkommens zu spüren und mußte vor der Familienrache mehr verantworten, als ihm zur Last gelegt war. Unter den Augen kontrollierender Vertreter der Skandalsucht. Die beiden Väter aber durften sich der Sachlichkeit freuen, mit der sie der Beschuldigte und dessen Verteidiger bedienten, und der eine war vielleicht am Schlüsse des Verfahrens erstaunt, daß der Gegner nicht einmal die kriminelle Gefahr gestreift hatte, die blinde Vaterliebe über einen armen Jungen heraufbeschwor, der heute noch zu unmündig ist, um den Ruhm seiner Zeugenschaft zu ertragen, aber zur Zeit der Tat schon mündig genug war, um vor dem Gesetze die Mitschuld zu verantworten. Indes, elterliche Sorge baut auf ihre eigene Weise dem Schaden vor. Dieser Vater — was möglich war, das tat er — ging einfach in die Redaktionen des Liberalismus und bewog sie, zu unterdrücken, was sich unterdrücken ließ, Name, Stand, Alter u.s.w. Eine öffentliche Verhandlung gegen den Doktor Beer und eine geheime gegen den Doktor Steger. Denn dieser ist ein eifervoller Gott, und Wiener Blätter dürfen seinen Namen nicht eitel nennen. Sie wissen, wann sie diskret sein dürfen, ohne gegen die journalistische Standesehre zu verstoßen.

Ob der Bock nicht doch noch eher zum Gärtner taugt als der Journalist zum Vertrauensmann, ist eine Frage, von deren Entscheidung das Leben des alten Sprichworts oder die Schaffung eines neuen abhängen wird. Glücklicherweise hat journalistische Diskretion wenigstens jene Vorkommnisse verschwiegen, deren Mitteilung der Erkenntnis des wahren Sachverhaltes gedient hätte. Sie hat — in einer homosexuellen Affäre, bei der das Laienurteil immer die schwerste Verfehlung voraussetzt — sogar den geringfügigen Tatbestand, dessen der Professor angeklagt war, vertuscht. Dagegen war journalistische Informiertheit, von der kinderfreundlichen Gesinnung der Väter bestochen, schon vor der Verhandlung am Werke, den Beschuldigten weit über das Maß seiner Schuld büßen zu lassen. Da brachte jeder Tag einen neuen »Fall«, neues Belastungsmaterial; da wurde eine »Erkrankung« des ersten Knaben, dessen Geständnis jetzt so vielen Eltern die Augen geöffnet hatte und noch öffnen würde, gemeldet. Kein Zweifel, man hatte es mit einem Lüstling wildester Richtung zu tun, dessen Treiben erst ruchbar wurde, als er eine »schändliche Krankheit« — so heißt sie offiziell — auf eines seiner unglücklichen Opfer übertragen hatte. Müßte nicht Richter Lynch das Urteil sprechen? Aber schnell — ehe ihm die Aufklärung wird, daß eine Mittelohrentzündung von der Wissenschaft bis heute nicht unter die venerischen Erkrankungen eingereiht ist ... Jahre vergehen, die Untersucher haben Zeit und Eifer. Noch immer täglich ein neuer Fall, mindestens eine neue Notiz. Gegen den Mann, der als Biolog und Psycholog das wissenschaftliche Experiment zum Vorwand seiner Lust nehmen konnte, wird am Tage des Gerichts die ganze besitzlose Volksklasse zeugen. Was möglich war, das tat er — der Vater nämlich. Aber siehe da, in der Verhandlung treten Eltern und Söhne auf, die von dem Wahn besessen sind, daß beim Photographieren nichts geschehen, nicht einmal das »Storch-Märchen« widerlegt worden sei, und man muß noch Gott danken, daß auf die zwei Hauptzeugen ein Verlaß ist und daß wenigstens sie ein Abenteuer mit einer durch vier Jahre gesteigerten Erinnerungsfähigkeit wiederzugeben wissen ... Wenn ich hier von dem »Geheimnis der Zeugung« spreche, so meine ich natürlich jenes, das der Angeklagte der Jugend sträflich offenbart hat. Denn die Kinder selbst mag nach wie vor der Storch bringen, aber die Zeugenaussagen von Kindern kommen auf natürlichem Weg zustande. Was sie vor Gericht gesagt haben, ist gewiß jene Wahrheit, an die sie mit der Zeit glauben lernten, und mindestens von derselben Ehrlichkeit beseelt, wie die Erzählungen hysterischer Frauen, die Notzuchtsattentate bezeugen, wenn sie sie schon nicht erleben ... Wo in aller Welt nahm man all die Phantasie her, die vor, in und nach dieser Gerüchtsverhandlung verbraucht wurde? Die Reportage unterstrich, was sie nicht sagte, weckte Vorstellungen krassester Art, wo sie verschwieg, daß jene gelindeste Usance des Homosexualismus verfolgt war, die im Deutschen Reiche straflos ist. Konnte sie von den Taten des Dr. Beer nicht sprechen, so schwelgte sie in der Stimmung des Milieus. Man sollte den Eindruck empfangen, daß im Hause Beer, wo hilfreiche Frauen den Lüsten des Gatten und Sohnes assistierten, eine Art Kinderschändungsgesellschaft G.m.b.H. etabliert war, die sich auf besondere Bestellung auch mit Tierexperimenten befaßte. War die Neugierde des Lesers mit Perversitäten überfüttert, so konnte es nicht schaden, wenn sie auch das vielzitierte Telegramm des Angeklagten an seinen Rechtsanwalt »Stier bei den Hörnern fassen« als eine sodomitische Weisung auffaßte. Die Phantasie mißbrauchter Leser wollte nicht träger arbeiten als die der jugendlichen Gäste des Hauses Beer, denen man »obszöne Photographien« gezeigt hatte. »Elephantenrüsselartige männliche Glieder«, so beschrieb der jüngere, »die sich um nackte Körper schlingen«. Also offenbar, da die Natur nicht so verschwenderisch ist, keine Amateurphotographien, sondern Reproduktionen von Gemälden. Und der Angeklagte gestand, daß in seinem Bibliothekszimmer tatsächlich außer einer Darstellung der Laokoongruppe die bekannten Stuckschen Bilder »Die Sünde« und »Die Wollust« aufgestellt sind. Dem Zeitungsleser ward dies Geständnis, das die Autorität des Kronzeugen erschüttern konnte, vorenthalten. Dafür wurde er reichlich durch die Mitteilung alles dessen entschädigt, was in der Verhandlung nicht vorgekommen ist. Eine Fälschung von vielen: Auf die Frage des Staatsanwalts, warum die Gattin des Angeklagten kurze Haare trage, hat sie natürlich eine andere Antwort gegeben, als die kolportierte: die langen seien ihr in der Tür eingeklemmt worden. Dem Staatsanwalt selbst mußte jeder Lacheffekt erspart bleiben. Eine Bonne sagt aus, daß sie einen zweiundeinhalbjährigen Knaben, der nackt photographiert werden sollte, ins Atelier des Dr. Beer brachte. Der Ankläger fragt sie, warum sie nicht auf das Schamgefühl des Knaben, der seine Nacktheit einem Weibe zeigen mußte, Rücksicht genommen habe. Um den Paroxysmus obrigkeitlicher Sittlichkeit, die einen Säugling unzüchtiger Berührung seiner Amme beschuldigen könnte, zu dämpfen, waren die Zeitungen so kulant, den Knaben um ein Jahr älter zu machen. Dafür ließen sie wieder den älteren Belastungszeugen, der damals alt genug war, um sich heute selbst zu belasten, um vier Jahre jünger sein. Daß der Angeklagte so hirnverbrannt gewesen sei, die Abfassung einer Broschüre zu planen, in der er sämtliche Frauen, an denen er seinen normalen Geschlechtstrieb bewiesen hat, preisgeben wollte, müssen die Leser der Gerichtssaalberichte glauben, da sie bloß von der Behauptung, nicht von dem Protest Kenntnis haben. Das journalistische Zartgefühl ist vor Mißdeutung sicher. Es lüftet nicht einmal das Inkognito des »bekannten Gynäkologen«, dem eine Sterbende die Greuel gebeichtet haben soll, zu deren Anblick sie ihre Leidenschaft für den Angeklagten gezwungen hätte. Auf dem Sterbebett lügt man nicht — rief der Staatsanwalt. Aber ist denn Herr Dr. Herzfeld auf dem Sterbebett? Dann müßte er die schwerste Schuld beichten, mit der ein Mann und Arzt sein Gewissen belasten kann: die Verletzung der Verschwiegenheitspflicht gegen eine Frau. Der Reporter ist diskreter als der Arzt; er hat bei der widerlichsten Episode dieses widerlichen Prozesses nicht allzulange verweilt und den Namen des Trefflichen verschwiegen, der das Geheimnis einer Sterbenden dem nach Belastungsmaterial fahndenden Anwalt der beiden Väter ausgeliefert hatte. Vor dem Untersuchungsrichter hatte der Spezialist für Frauenleiden sich der Aussage entschlagen, weil die Mitteilung eines Berufsgeheimnisses den Arzt in Konflikt mit einem Strafparagraphen, weil sie ihm Schande bringen könnte. Einem guten Bekannten gegenüber fühlte er sich zu so strenger Auffassung nicht genötigt und entband sich mit glücklicher Ruhe der ärztlichen Diskretionspflicht. Es ist erreicht. Neidlos lobt man ihn endlich in Fachkreisen als geschickten Entbinder ...

Ein Sittlichkeitsprozeß ist die zielbewußte Entwicklung einer individuellen zur allgemeinen Unsittlichkeit, von deren düsterem Grunde sich selbst die erwiesene Schuld des Angeklagten leuchtend abhebt. Die Frage, ob Herr Dr. Beer Knaben mißbraucht hat, mag der Ankläger schwereren Mißbrauchs ohneweiters bejahen. Man muß nicht einmal die Strafe in ihrer weit unter das gesetzliche Maß reichenden Milde als ein Schuldbekenntnis des Gerichts auffassen, nicht glauben, daß die Richter in jener einflußvergifteten Stimmung, die ein Opfer verlangte, den Ausweg zahmer Verurteilung gesucht haben. Man mag auch mit den Müttern dieser Verhandlung glauben, daß hysterische Knaben an Eindrücken, die sie in den Jahren der Pubeszenz erlebt oder erlitten haben, sich als »Fanatiker der Wahrheit« bewähren können, daß Hänschen Rilow in Wedekinds (nicht aus der Gerichtssaalpsychologie geborner) Kindertragödie »Frühlingserwachen« ein kleiner Gregers Werle ist, der die Onanie für eine Lebenslüge hält und darum ein Venusbild, das den Schlafseiner Nächte stört, dem Orkus des Klosetts überantwortet. Es ist nicht ganz so. Aber äußern wir zunächst nur, um es zu unterdrücken, unser Mißtrauen. In einem ausführlichen Gutachten zum Fall Beer hat der Breslauer Psychologe William Stern die Steigerung der vor Mutter, Onkel und Untersuchungsrichter abgelegten Bekenntnisse anders als der Staatsanwalt, anders als mit der Abnahme des Schamgefühls oder der Zunahme der Aufrichtigkeit zu erklären versucht: »Psychische Ursachen, die dem Verhör eine so sehr viel geringere Glaubwürdigkeit verleihen als dem Bericht, gibt es viele ... Zunächst wirkt jede Frage als Zwang auf den Gefragten, Erinnerungspartien, die so unklar waren, daß sie sich nicht von selbst einstellen konnten, mit Gewalt hervorzuziehen. Sodann wirkt die Frage als Suggestion: sie legt eine Stellungnahme nahe, die der Fragende erwartet und die der Gefragte, wenn er suggestibel ist, nur allzuleicht ohne Prüfung zur seinigen macht, selbst im Gegensatz zum wirklichen Erlebnis. Endlich aber wirkt die Frage, namentlich die recht eindringliche, bohrende, oft wiederholte, als eine der gefährlichsten Anreizungen zu Phantasie- und Lügengebilden, die zu Hilfe genommen werden, um die Fragefolter endgültig los zu werden«. Ein für die Psychologie des Kindes tief bedeutsames Beispiel, ein merkwürdiges Analogon zum gegebenen Fall hat der Sachverständige in Gottfried Kellers »Grünem Heinrich« gefunden: »Ich saß einst hinter dem Tische, mit irgend einem Spielzeuge beschäftigt, und sprach dazu einige unanständige, höchst rohe Worte vor mich hin, deren Bedeutung mir unbekannt war und die ich auf der Straße gehört haben mochte. Eine Frau saß bei meiner Mutter und plauderte mit ihr, als sie die Worte hörte und meine Mutter aufmerksam darauf machte. Sie fragte mich mit ernster Miene, wer mich diese Sachen gelehrt hätte, insbesondere die fremde Frau drang in mich, worüber ich mich verwunderte, einen Augenblick nachsinnend, und dann den Namen eines Knaben nannte, den ich in der Schule zu sehen pflegte. Sogleich fügte ich noch zwei oder drei andere hinzu, sämtlich Jungen von zwölf bis dreizehn Jahren, mit denen ich kaum noch ein Wort gesprochen hatte.« Die Sache wird angezeigt; es folgt das Verhör in der Schule, und der Knabe gestaltet nun die begonnene Fälschung zu einem gewaltigen Phantasie- und Lügengewebe aus: »›Wo hast du die bewußten Dinge gehört von diesen Buben?‹ Ich war sogleich wieder im Zuge und antwortete unverweilt mit trockener Bestimmtheit: ›Im Brüderleinsholze!‹ Dieses ist ein Gehölz, eine Stunde von der Stadt entfernt, wo ich in meinem Leben nie gewesen war, das ich aber oft nennen hörte. ›Wie ist es dabei zugegangen, wie seid ihr dahin gekommen?‹ fragte man weiter. Ich erzählte, wie mich die Knaben eines Tages zu einem Spaziergange überredet und in den Wald hinaus mitgenommen hätten, und ich beschrieb einläßlich die Art, wie etwa größere Knaben einen kleinern zu einem mutwilligen Streifzuge mitnehmen. Die Angeklagten gerieten außer sich und beteuerten mit Tränen, daß sie teils seit langer Zeit, teils gar nie in jenem Gehölze gewesen seien, am wenigsten mit mir! Dabei sahen sie mit erschrecktem Hasse auf mich, und wollten mich mit Vorwürfen und Fragen bestürmen, wurden aber zur Ruhe gewiesen und ich aufgefordert, den Weg anzugeben, welchen wir gegangen. Sogleich lag derselbe deutlich vor meinen Augen, und angefeuert durch den Widerspruch und das Leugnen eines Märchens, an welches ich nun selbst glaubte, da ich mir sonst auf keine Weise den wirklichen Bestand der gegenwärtigen Szene erklären konnte, gab ich nun Weg und Steg an, die an den Ort führen. Ich kannte dieselben nur vom flüchtigen Hörensagen, und obgleich ich kaum darauf gemerkt hatte, stellte sich nun jedes Wort zur rechten Zeit ein.« Es folgt eine Erzählung der kompliziertesten Abenteuer. »Noch nie hatte man in der Schule eine solche Beredsamkeit an mir bemerkt, wie bei dieser Erzählung. Es kam niemand in den Sinn, etwa bei meiner Mutter anfragen zu lassen, ob ich eines Tages durchnäßt und nächtlich nach Hause gekommen sei. Dagegen brachte man mit meinem Abenteuer in Zusammenhang, daß der eine und andere der Knaben nachgewiesenermaßen die Schule geschwänzt hatte, gerade um die Zeit, welche ich angab. Man glaubte meiner großen Jugend sowohl, wie meiner Erzählung; diese fiel ganz unerwartet und unbefangen aus dem blauen Himmel meines sonstigen Schweigens. Die Angeklagten wurden unschuldig verurteilt als verwilderte bösartige junge Leute, da ihr hartnäckiges und einstimmiges Leugnen und ihre gerechte Entrüstung und Verzweiflung die Sache noch verschlimmerten; sie erhielten die höchsten Schulstrafen, wurden auf die Schandbank gesetzt und überdies noch von ihren Eltern geprügelt und eingesperrt.« Erst nach Jahren geht ihm sein Unrecht auf. »So oft ich daran dachte, stieg mir das Blut zu Kopfe und ich hätte mit aller Gewalt die Schuld auf jene leichtgläubigen Inquisitoren schieben, ja sogar die plauderhafte Frau anklagen mögen, welche auf die verpönten Worte gemerkt und nicht geruht hatte, bis ein bestimmter Ursprung derselben nachgewiesen war« ... Gottfried Kellers Gutachten durfte im Prozeß nicht zur Verlesung gelangen. Man wird sagen, daß der »Grüne Heinrich« ein autobiographischer Roman ist und daß im kleinen Gottfried eben schon der exzeptionelle Mensch, der große Dichter steckt. Aber vielleicht ist auch die Zeugenaussage des kleinen Oskar eine Talentprobe, und wenn er ein Dichter ist, muß deshalb ein anderer noch kein Päderast sein ... Dem Breslauer Psychologen fällt es übrigens auf, daß die beiden Knaben leugnen, miteinander verkehrt zu haben; die Kommunikation lasse sich mit Bestimmtheit annehmen. Und sie wird auch von kopfschüttelnden Freunden beider Häuser bestätigt. Das Stern’sche Gutachten kommt zu dem Schlüsse, daß die Aussagen der beiden Jungen — so weit sie im Protokoll des Untersuchungsrichters gediehen sind —, insbesondere die des Hauptbelastungszeugen, »so viel psychologische Fälschungsmomente zeigen, daß sie nicht als Beweisgründe für die Realität des behaupteten Tatbestandes gelten können«, und daß die psychische Veränderung des jüngeren Knaben »weder in ihrem Beginne und Verlauf noch in ihrer Beschaffenheit mit Sicherheit auf einen einmaligen Chok zurückzuführen sei und daher nicht den Charakter eines objektiven Beweismomentes habe«. Ich will dem Fachmann Unrecht und den Laien, die die beiden Zeugen in der Verhandlung gehört haben, Recht geben. Ich will auch ein weiteres Bedenken gegen die Echtfärbigkeit ihrer Bekenntnisse nur äußern, um es zu besiegen. Die Knaben schienen so zu deponieren, als ob sie schon im Erlebnis die sittliche Empörung empfunden hätten, die sich später ihrer Eltern bemächtigen sollte. In der kindlichen Verwunderung über all das Neue, das sie gesehen haben, klingt gleich die pädagogische Mißbilligung mit. Der eine Knabe sagt: »Ich habe ihr nun erzählt, was Dr. Beer mit mir getan hat, daß er mir Aufklärungen gab, die ich nicht verlangt habe«. (Sie wollen mir sagen, wie die Kinder zur Welt kommen, mein Herr? Ich bin nicht neugierig; das werde ich noch früh genug erfahren.) »Ich dachte mir nur: Es ist unmöglich, was er mir gesagt hat, das kann nicht sein, das kommt nur bei ordinären Leuten vor. Es haben sich in mir unnatürliche Vorstellungen gebildet«. (Ich bin im Entwicklungsalter, mein Herr, und da bleiben leicht sexuelle Eindrücke haften; also Vorsicht, wenn ich bitten darf!) Oder: »Der furchtbare Eindruck ist mir klar geblieben«. Und auf eine Frage des Verteidigers, wörtlich: »Umso besser für Sie, Herr Verteidiger, wenn Sie so etwas nicht durchgemacht haben«. Der Präsident appelliert folgerichtig an die psychologische Erfahrung des Knaben: »Spielt Ihnen die Phantasie vielleicht einen Streich, daß Sie verweben, was Sie denken, mit dem, was sich wirklich zugetragen hat?« Antwort: »Nein«. Und der Knabe erzählt, er habe, nachdem er einmal dem Dr. Beer begegnet sei, zuhause voll Wut die Handschuhe ausgezogen und der Mama gesagt: »Ich rege mich auf, weil ich ihn wieder traf. Die Handschuhe ziehe ich nicht mehr an. Ich habe mir auch die Hand gewaschen«. Und: »Den Schmutz bringe ich in meinem Leben nicht weg!« Die Reaktion auf die Tat des Verführers war also eine hochmoralische. Anderseits: »Es war mir das Ganze unverständlich. Ich habe dem Vorfall keinen Wert beigemessen«. Auf die Frage, ob der Zeuge mit jemand darüber gesprochen habe: »Nein. Ich habe mit niemandem darüber gesprochen. Ich suchte die unangenehme Erinnerung zu verlieren.« Dr. Beer hatte ihm Photographien gezeigt, die er »nicht habe sehen wollen; es seien Bilder gewesen, die ihn abgestoßen hätten«. Auch die Erzieherin bezeugt das kindliche Verständnis für den Übergriff des Erwachsenen. In Aussee habe ihr der Knabe gesagt: »Dr. Beer hat mich bei der Tür empfangen, war aber noch nicht angezogen. Was sagst du dazu?« (Ich laß mich hängen, wenn der nicht homosexuell ist! — muß hier ergänzt werden.) Auch der Onkel berichtet, der Knabe habe ihm ein Gespräch mit Dr. Beer wie folgt wiedererzählt: Beer fragte: Glaubst du an den Storch? Der Knabe habe »mit Nein geantwortet, obwohl er eigentlich davon nichts wußte«; »er wollte nur vom Thema loskommen«. Er hatte, sagt die Mutter, »niemals Neigungen, auch nur ein Witzblatt mit gewissen Bildern anzusehen, wenn es zufällig in seine Hände kam. Er hat keinen Geschmack dafür gehabt«. Er ist ein »Fanatiker der Wahrheit«. Aber er beichtet nicht nur eine Unsittlichkeit, er erkennt sie auch sofort. Sonst sind Kinder neugierig und Mütter erfahren. Hier ist es einmal umgekehrt. Sonst fragt der Bub, der zum erstenmal Schiller liest, was das Wort »Hure« bedeutet. Darauf gibt ihm die Mutter in der Regel eine Ohrfeige. Hier wäre es wohl umgekehrt. Dies Kind — kein Engel ist so rein, aber auch keiner so ahnungsvoll — spricht von den Gefahren, die seiner Jugend drohen, etwa so, wie jener Possenfriedrich von dem siebenjährigen Krieg, in den er zu ziehen beschließt. Um im perversen Milieu des Prozesses zu bleiben: Diese kleinen Historiker sind wirklich rückwärts gekehrte Propheten ...

Indes, wenn wir auch von der Schuld des Herrn Dr. Beer überzeugt sein müßten, um ihn verurteilen zu dürfen, so brauchen wir gewiß nicht an seine Unschuld zu glauben, um zur Verurteilung des Prozesses berechtigt zu sein. Besteht zwischen dem, was er getan hat, und dem, was er leiden soll, ein Mißverhältnis, so mag es ihn, seine Freunde, seine Juristen beschäftigen. Weit ärgere Zwietracht regt uns auf, die wir im Walten einer schamlosen Sittenjustiz tagtäglich Vernunft in Unsinn, Wohltat in Plage verwandelt sehen. Und so wie ich manchmal stilistische Fehler einer journalistischen Äußerung, die ich zitieren will, großmütig beseitige, um ihre infame Gesinnung wirksamer bloßzustellen, so könnte ich einem Prozeßverfahren seine gesetzliche Korrektheit zubilligen, um wichtigeren Schlüssen Teilnahme und Glauben zu sichern. Die Schuld des Herrn Dr. Beer müßte offenbar sein — und mein Tadel des Prozeßskandals wäre eindringlicher, weil er von dem Verdacht unbehelligt bliebe, eine Reinwaschung des Angeklagten zu bedeuten. Sie liegt meiner Absicht so fern wie eine Beschönigung der Tat, deren ihn ein Richterspruch schuldig befunden hat. Das Urteil ist es, das die Tat beschönigte. Denn dem unerforschlichen Ratschluß des Herrn Feigl hat es gefallen, den Angeklagten nicht wegen Kinderschändung (§ 128), sondern wegen Homosexualität (§ 129) zu verurteilen. Die widerspruchsvolle Diktion des Schändungsparagraphen — mit ihrem törichten Wenn-Satz — hat den Mißgriff verschuldet. Aber in dem Unzuchtsgerümpel des alten Strafgesetzes ist es der einzige Paragraph, der in das Herz freier Zeitgenossen, die Menschliches mit menschlichen Maßen messen, nicht geradezu mit glühendem Eisen stößt. Denn darüber sind sich nur die Kriminalisten nicht klar: Der Gesetzgeber, der heute so ahnungslos am Geschlechtsleben herumstümpert, könnte sich wohl nützlich machen, wenn er ins freie Feld der Lust die Vogelscheuche des Paragraphen stellte, aber nur um drei Rechtsgüter zu schützen: die Gesundheit, die Willensfreiheit und die Unmündigkeit. Der Staatsanwalt lasse das Individuum, das im Bewußtsein einer venerischen Erkrankung seine venerische Wirksamkeit fortsetzt, wie einen tollen Hund einfangen, er gehe die Gewaltanwendung an und den Mißbrauch von Kindern. Was willige und mündige Menschen miteinander tun, davon lasse er seine Hand. Rechtsgut kann nie die individuelle Sittlichkeit, höchstens der öffentliche Anstand sein. Was innerhalb der vier Wände geschieht, kann kein Ärgernis erregen, und die Staatsgewalt ist nicht bemüßigt, sich vors Schlüsselloch zu stellen. Es ist immer wieder, als ob man’s zum erstenmal sagte: Die Zudringlichkeit einer Justiz, die den Verkehr der Geschlechter reglementieren möchte, hat stets noch die ärgste Unmoral gezeitigt; kriminelle Belastung des Sexualtriebs ist staatliche Vorschubleistung zu Verbrechen. Der Denunziant und der Erpresser sind die Bundesgenossen des Sittenjuristen. Wird die Moral zum Rechtsgut, so sind die Lebensgüter der Freiheit, des Seelenfriedens und der wirtschaftlichen Sicherheit gefährdet. Die Kuppelei gedeiht als Wucher und Ausbeutung, wenn das kriminelle Risiko mitbezahlt werden muß. Homosexueller Verkehr: auf dem Fettboden der Strafdrohung blüht der Weizen der Chantage. Und sie ist das verheerendste Verbrechen, das die Moraljustiz auf dem Kerbholz hat. Wenn der Erpresser nicht zum Denunzianten wird, wenn der auf das Opfer geübte Druck die gewünschte Wirkung tut und die Unterlassung der Strafanzeige oder der üblen Nachrede mit täglich erneuten Höllenqualen und dem wirtschaftlichen Ruin erkauft wird, dann — ich schrieb es schon einmal — versagt des Theoretikers Weisheit; denn ihm fehlt die Statistik der nicht erstatteten Anzeigen und der befriedigten Erpressungen. So traurig die Sache ist, so grotesk ist es, daß der Dummkopf Staat, der die Homosexuellen zu »normalem« Geschlechtsverkehr zwingt, weil es ihm auf die »Fortpflanzung« ankommt und weil er die Naturtriebe vom Standpunkt der Rekrutenaushebung wertet, lieber ein Jammergeschlecht entstehen und die Päderastie sich vererben lassen will, als daß er die zur Zeugung nicht Berufenen sich ausleben und somit aussterben ließe. Handelt er aber human, wenn er bloß für die kommende Generation von Päderasten besorgt ist und die lebende mißhandelt? Wenn er die Nervenkraft von tausend harmlosen, tüchtigen oder hervorragenden Bürgern unter den Druck krimineller Gefahr und sozialer Schande stellt? Herr Moritz Benedikt freilich, der Nervenpathologe, will sie erlösen. Er wurde nach seiner Meinung über den Fall Beer gefragt und hat, ohne erst die soziale Gefahr der Kinderschändung und die der Homosexualität gegeneinander abzuwägen, eine Methode in Vorschlag gebracht, die den unseligen Opfern der Männerliebe helfen könnte. »Enthaltsamkeit, Zuchthaus oder — Chirurgie«. Wenn sich perverse Menschen nicht enthalten und nicht jede einzelne sinnliche Wallung im Kerker büßen wollen, so können sie ja — gibt’s etwas Einfacheres und zugleich Radikaleres? — »einen chirurgischen Eingriff an sich vornehmen lassen«. Man schwankt, ob man sich mehr über die Menschlichkeit oder über die Kapazität eines Nervenarztes, der den Chirurgen zuhilfe ruft, freuen soll. Man weiß nicht, ob man es mit einem albernen Ulk zu tun hat oder mit dem pathologischen Exzeß eines Psychiaters, dessen Kuratelbedürftigkeit seit Jahren auf allen Kongressen zum Himmel schreit. Tatsache ist, daß sich so aggressiver Schwachsinn heute in die Öffentlichkeit wagt. Dieser Herr Benedikt hat es offenbar mehr auf die Potenz als auf die Richtung der Homosexuellen abgesehen: er fürchtet die Gefahr der Fortpflanzung, die im päderastischen Geschlechtsverkehr gegeben ist. Oder glaubt dieser Arzt, daß durch die Kastration die geschlechtliche Lust oder auch nur die technische Möglichkeit geschlechtlichen Verkehrs beseitigt ist? Da müßte er doch weiter gehen und alle die Körperteile aufzählen, die amputiert werden müßten, um den Patienten vor einem »Konflikt mit dem Sittengesetz« zu bewahren. Im Prozeß Beer wurde die Hand des Angeklagten schuldig befunden. Am radikalsten und einfachsten wäre es jedoch, die Nervenstränge zu amputieren, um Staatsanwälte und Psychiater zu beruhigen. Denn Michelangelo wäre ein großer Päderast geworden, auch wenn er ohne Hände auf die Welt gekommen wäre ... Aber man muß sich nicht bei den Albernheiten eines Zeitgenossen aufhalten, wenn es die Vorurteile eines Zeitalters zu bekämpfen gilt. Mit Professor Sigmund Freud — der gleichfalls befragt wurde — habe man die Einsicht und den Mut, zu bekennen, daß der Homosexuelle weder ins Zuchthaus noch in den Narrenturm gehört. Weder, der nicht anders, noch der auch anders kann. Weder der von der Natur den horror feminae mitbekommen hat, noch der sogenannte »Wüstling«, der als bewußter Eroberer neuer erotischer Reiche ein Künstler sein kann. Waren große Denker, Dichter und Gelehrte aller Zeiten, um deren »perverse« Sexualität wir wissen und deren ethische Hoheit wir anerkennen, deren gesunden Geist wir bewundern, krankhafte oder verbrecherische Schädlinge? Die auf das eigene Geschlecht gerichtete Geschlechtstendenz des Mannes ist als angeborener Trieb naturwidrig. Gesellschaftswidrig, weil sie — ich sagte es schon einmal — den Mann als sexuelles Wesen bejaht und als den Träger von Ethik und Vernunft ausschaltet. Aber die einzige Gefahr des Homosexualismus, die in der Komplizierung der sozialen Lebensverhältnisse durch die Einschaltung eines neuen Stroms erotischer Anziehung gelegen ist, ist weder von Polizisten noch von Psychiatern zu bannen. Durch Entfesselung würde sie eingeschränkt. Die Gesellschaftsmoral hat auch hier die Rolle des Verbots als eines erotischen Faktors übersehen. Was ein Sexualverbot als Wächter verhindert, bringt es als Kuppler reichlich herein. Oh über das Raffinement der christlichen Sündenlehre! Alles Gewähren würde Gefahr und Lust mindern, alles Verbieten ist erogen. Leider auch hysterogen. Und die staatlichen Vertreter der Sündenmoral haben in Osterreich nicht nur die mannmännliche Tendenz unter Strafsanktion gestellt. Wie sollte beim Weibe als dem ausschließlich sexuellen und antisozialen Wesen die Abkehrung zum eigenen Geschlecht ein neues Gefahrelement schaffen? Aber der Psychiaterwahnwitz hat nicht nur Plato, sondern auch Sappho mit dem Stigma der »Perversität« belegt, und in Österreich interessiert die Pathologie beider Geschlechter den Kerkermeister. Nun, die Propaganda der Kulturmenschen, die jetzt die Abschaffung des menschenmörderischen Paragraphen bezweckt, wird zum Ziel führen — mögen auch die Familienväter, die in Ämtern, Parlamenten und Gelehrtenstuben die nächste Reform des Strafgesetzes vorbereiten, von der Angst um den geregelten Betrieb in den staatlichen Gestüten der Menschheit gelähmt sein. Man wird sie doch einmal zwingen, das Gesetz so einzurichten, daß ein Knabenschänder nicht deshalb in den Kerker wandere, weil er nicht nach dem Geschlecht, sondern lediglich deshalb, weil er nicht nach dem Alter gefragt, nicht weil er Knaben, sondern weil er Kinder mißbraucht hat. Mit Professor Freud muß man der Ansicht sein, daß die Tat, deren Herr Dr. Beer bezichtigt wird, nicht unter dem Gesichtspunkt der Homosexualität zu beurteilen ist und daß die Verurteilung in solchem Fall — bei gegebenem Tatbestand — auch de lege ferenda aus demselben Grunde erfolgen müßte, wie wenn ein Mädchen unter vierzehn Jahren geschlechtlich mißbraucht worden wäre. »Eine Verurteilung zweier erwachsener Personen wegen homosexuellen Verkehrs ist zu bedauern; ein Mensch, der Knaben mißbraucht hat, die noch nicht das gesetzliche Alter erreicht haben, soll verurteilt werden.«

Aber die Väter sollen ihn nicht anzeigen. Weil die kriminelle Erledigung solcher Affären gegen das Interesse sündigt, das geschützt werden muß, weil sie den Schaden vermehrt, den die Tat gestiftet hat. Wenn zumal nicht mehr geschehen ist, als im Falle Beer — und selbst wenn stärkere Beweise vorliegen —, kann eine private Ohrfeige als das der Tat entsprechende Strafausmaß angesehen werden. Weiter durfte, wie hier schon begründet wurde, der legitime Kinderfreund auch im Selbsthilferecht nicht gehen. Er, der Jurist, durfte nicht dem Beschuldigten »Bedingungen« stellen, ihm die Wahl lassen zwischen Zuchthaus und anderen Strafen, die er in privatrichterlicher Machtvollkommenheit über ihn zu verhängen wünscht: Verlust des Lehramts und Landesverweisung. Er durfte nicht, wenn er weder anzeigen, noch sich mit dem Ausschluß des Jugendverderbers aus dem Familienverkehr begnügen wollte, den Mittelweg, die Aufhebung eines Staatsgrundgesetzes, wählen, statt eines gerichtlichen Urteiles eine Rechtsfolge herbeiführen und die Freizügigkeit des Beschuldigten sistieren. Auch durfte der andere Vater nicht an den Vater des Beschuldigten schreiben: »Mit Rücksicht darauf, daß Sie mir und meinen Kindern stets freundlich entgegengekommen sind, habe ich es für meine Pflicht gehalten, Sie davon zu verständigen, bevor ich etwas veranlasse. Vor allem fordere ich, daß Ihr Sohn sich bei meinem Freund und Anwalt stelle ... Ich verliere keine Minute mehr.« »Ich habe erwartet«, bekennt der Absender des Briefes vor Gericht, daß der Empfänger »sich durch nichts abhalten lassen werde, zu mir zu stürzen und mir in irgend einer Weise Vorstellungen zu machen.« Da dies nicht geschah, durfte er dem Gegner nicht schreiben: »Sie haben sich hinter Ihrem Advokaten und Ihrem Vater verkrochen, statt Sühne zu bieten«. Daß die Herren aus der Furcht des Beschuldigten nicht Vorteil ziehen wollten, sei ihnen zugebilligt. Aber Gesetz und Moral verbieten, die Furcht zum Nachteil des Andern zu nützen. Die Anmaßung solcher Hausjustiz hat mich zu jener begrifflichen Untersuchung des Erpressungsparagraphen bestimmt. Herr Hofrat Feigl, der vielleicht in der landläufigen Meinung lebt, daß zur Erpressung ein gewinnsüchtiges Motiv gehöre, vernahm, wie sich die beiden Zeugen ihres Versuchs einer friedlichen Intervention rühmten, hörte die Worte: »Wenn er der Aufforderung, sich zu stellen, Folge leiste, werde keine Anzeige erstattet werden, er brauche nur auf die Professur zu verzichten und Österreich zu verlassen«. Herr Hofrat Feigl erwiderte: »Es ist begreiflich, daß die Herren, wenn sie keine Anzeige erstatten, wenigstens die Genugtuung haben wollten, daß der Mann Reue vor ihnen bekunde«. Der juristische Sinn des Herrn Hofrats Feigl begriffe es vielleicht sogar, daß die Zeugen — ein Gerücht hat’s ihnen zugetraut — vom Beschuldigten eine Leistung zu wohltätigem Zweck verlangt, also auch in das Privileg des Staates, Geldstrafen zu verhängen, eingegriffen hätten. Bloß von Hausarrest soll nie die Rede gewesen sein. Auch nicht von einem Versuch, dem Verführer des Sohnes auf der Ringstraße eine Geldtasche zu entreißen. Aber wenn Herrn Feigl das Verlangen nach einer »Genugtuung« begreiflich scheint, deren Art und Maß der Beleidigte bestimmt, dann kann man der staatlichen Justiz nur den Rat geben, sich vor der Ambition eines selbstherrlichen Rächers zurückzuziehen, der Privatbeteiligter, Ankläger und Richter in eigener Person ist. Wie weit ein Vater in der ungesetzlichen Vergeltung einer Übeltat gehen kann, deren gesetzliche Verfolgung seinem Geschmack und seiner Vaterliebe widerstrebt, das scheint der gesunde Menschenverstand besser zu wissen als der juristische. Prügeln begreift er, Bedingungen stellen, das findet er so unbegreiflich wie — eine Strafanzeige.

... Am Tage, da in öffentlicher, mit strengstem Ausschluß der Heimlichkeit durchgeführter Verhandlung der moralische Schaden unzüchtig berührter Knaben bemessen ward, fand vor dem Schwurgericht ein Beleidigungsprozeß statt, in dem sich ein Kleingewerbetreibender gegen den Vorwurf der Lehrlingsschinderei wehrte. Da wurde, wie etwas, das sich von selbst versteht, die Wiener Sitte erörtert, nach der ein Knabe, der als Zugtier dient, eine Warenlast von drei- bis vierhundert Kilo, wenn aber noch ein Hund vor den Handwagen gespannt ist, die doppelte zu ziehen habe. Ein Votant war es, der sich bemühte, das Gewissen des gekränkten Geschäftsmannes zu entlasten und die Kinder- und Tiermarter als eine Usance des Wiener Kleinhandels zu rechtfertigen. Einer richterlichen Kritik ward diese nicht unterzogen. Das Ende der Verhandlung habe ich nicht abwarten können. Ich nehme an, daß die zwölf Besitzer von Handwagen, die auf der Geschwornenbank saßen, den Angeklagten der Beleidigung schuldig gefunden haben. Aber auf die Gefahr hin, endgültig in die Reihe der moralischen Scheusale von Nero bis Professor Beer gestoßen zu werden, erkläre ich, daß mir das Verschulden des Mannes, der hundertmal der Knabenschändung und des Vorschubs zur Sodomie überwiesen wäre, hundertmal geringer scheint als jener Mißbrauch von Kindern und Tieren, dessen täglicher Anblick im Wiener Straßenbild uns schmerzt und beschämt, daß mich das Schicksal des Lastknaben beklagenswerter dünkt als das des Lustknaben. Ich glaube, die sittliche Verkleisterung der Gehirne, die aus der zärtlichen Berührung der Kleinen eine Sensation macht und die gewinnsüchtige Mißhandlung ihrer Körper hinnimmt, wird bald dem Ideal jener lebensfeindlichen Asketik reif sein, die die Last für menschenwürdiger als die Lust erklärt hat. Auf den Moralprozessen, die vor irdischen Richterstühlen geführt werden, liegt schon etwas wie der Abglanz jener Erfüllung. Weit über die Straftat hinaus maßt sich der Arm der Gerechtigkeit an, in das Leben des Angeklagten zu greifen, und durch die Maschen des nüchternen Gesetzes langt er, um sein Menetekel an die Wand einer Privatwohnung zu schreiben. Wenn er nicht freiwillig zugunsten der Hausjustiz abdiziert hat, vollzieht er selbst Hausjustiz. »Es ist nicht Sache der Behörde«, sagt der Staatsanwalt, »in dem knappen Rahmen der Anklageschrift die überaus zahlreichen Momente zu erörtern, welche darauf hindeuten, daß der vermöge seiner finanziellen Unabhängigkeit, seiner öffentlichen Stellung und seiner anscheinend faszinierenden gesellschaftlichen Gaben in jeder Hinsicht bevorzugte Beschuldigte ein Individuum ist, das zumindest in der Moral Anschauungen aufweist, welche überhaupt von dem normalen Anstands- und Sittlichkeitsgefühle abweichen«. Es ist nicht Sache der Behörde, aber sie konnte es sich doch nicht versagen. Da sie also zwar die Erkenntnis, aber nicht den guten Willen hat, so wird es notwendig sein, ihr in jedem einzelnen Falle zu sagen, daß sie bloß Taten zu treffen hat und daß sie die »Anschauungen« des Beschuldigten einen Schmarren angehen. Ich bringe der Staatsanwaltschaft, wenn sie es noch nicht wissen sollte, zur Anzeige, daß auch meine Moralanschauungen »überhaupt« — und Gottseidank — von dem normalen Anstands- und Sittlichkeitsgefühle oder von dem, was die Staatsanwaltschaft darunter versteht, abweichen. Aber nicht darauf wird es ihr anzukommen haben, sondern auf die Untersuchung, ob ich Kinder geschändet oder sonst eine gesetzwidrige Handlung begangen habe. Für alle Fälle teile ich ihr mit, daß in meinem Arbeitszimmer einige Radierungen von Félicien Rops hängen. Ich kann nicht dafür garantieren, daß ein Setzerlehrling, der von meinem Arbeitstisch kommt, nicht Eindrücke nachhause trage, die seine jugendlichen Sinne verwirren. Mag er auch durch die technische Mitarbeit an meiner Zeitschrift hinlänglich darüber aufgeklärt sein, daß der Storch nicht die Kinder bringt, so kann ich doch nicht wissen, ob er nicht, eindringlich gefragt, mindestens zugeben würde, daß ich ihn »obszöne Photographien« habe sehen lassen. Vor solcher Möglichkeit ist niemand, selbst ein Staatsanwalt nicht geschützt. Dr. Beer ist bartlos. Ich bin es auch. Der Staatsanwalt ist es auch. Um die homosexuelle Tendenz des Angeklagten zu beweisen, fragte er dessen Gattin, warum sie kurze Haare trage. Die Frage, warum der Angeklagte bartlos sei, mußte er sich leider versagen, und allgemein wurde es als ein taktischer Fehler der Staatsanwaltschaft empfunden, daß sie nicht einen bärtigen Substituten, am besten Herrn v. Türk, gegen den Angeklagten aufgeboten hatte. Für den, der nicht auf die objektive Wahrheit der Zeugenaussagen neurasthenischer Kinder schwört, schrumpft der Beweis, der hier zum Schuldspruch geführt hat, zu einem fatalen Indizienbeweis zusammen. Wer aber ist vor einem Indizienbeweis sicher? Herr Dr. Beer hat den Besuch von Kindern empfangen. Wer ist vor Kinderbesuch sicher? Nicht einmal ein Staatsanwalt. In Pötzleinsdorf steht ein gastlich Haus. Dort läßt Herr v. Kleeborn, der Chef der Anklagebehörde und Junggeselle, die Kindlein zu sich kommen. Dort sind Kleinemädchenjausen an der Tagesordnung. Auch Herr v. Kleeborn ist ein Kinderfreund; darum hat er sich besonders energisch für die Verfolgung des Dr. Beer eingesetzt. Die freilich das Gebaren des Professors am schärfsten mißbilligen, sagen, er sei gar nicht pervers, höchstens sein Snobismus sei strafbar, der ihn das Studium der Kinderpsyche übertreiben, mit einem nackten Knaben auf dem Arm in Gesellschaften erscheinen und — man denke — einmal den Ausspruch tun ließ, im Kinderzimmer sei es interessanter als im Salon. Aber ist denn die Kinderfreundschaft des Herrn v. Kleeborn, der an Sommertagen oft vierzig Lieblinge traktiert und zu Ausflügen ladet, eine alltägliche Erscheinung? Hält sie sich in den Grenzen des normalen Geschmacks? Die Übertreibung der Humanität macht diesem gefühlvollen Staatsanwalt gewiß alle Ehre. Aber würde er zögern, sie gegen einen der sträflichen Kinderliebe Beschuldigten als »Indizium« geltend zu machen? Würde er nicht, der in der Kinderrettungsgesellschaft das große Wort führt, sogar die Mitgliedschaft eines Verdächtigen verdächtig finden? Bewahre der Himmel Herrn v. Kleeborn vor der Möglichkeit, daß einer seiner Lieblinge zu hysterischen Wahngebilden neigt oder sich gar eine Mittelohrentzündung zuzieht! Die »Anschauungen«, die dieser Staatsanwalt »aufweist«, sind gewiß nicht alltäglich. Eher ist es die Tat, deren Herr Dr. Beer schuldig befunden wurde. Darum macht ja auch der große Apparat, mit dem die rächende Gerechtigkeit in solchen Fällen auffährt, einen so grotesken Eindruck. Ein Junge hat ausnahmsweise von einem Professor gelernt, was er sonst unfehlbar von einem Mitschüler gelernt hätte. Die Tat des Erwachsenen mag beklagenswert sein. Aber dem offiziellen Österreich, dem Land der Konvikte, steht es wahrlich schlecht genug an, sich darüber zu entrüsten, daß die Jugend aus dem Geleise der normalen Geschlechtsentwicklung geworfen werde. In den Pflanzstätten bureaukratischen und aristokratischen Geistes wird freilich die Altersgrenze strenge respektiert, und es kommt dort gewiß selten genug vor, daß ein Knabe unter vierzehn Jahren einen älteren mißbraucht. Aber ist denn nicht die ganze österreichische Staatskunst ein Produkt mutueller Onanie? In diesem Reich der wüstesten theresianistischen Triebe sollte sich offizielle Sittlichkeit doch nicht so patzig machen! Ihre Blamierung würde wie eine kalte Dusche im Centralbad wirken. In diesem Land der eingestellten Untersuchungen gegen die Verkäufer obszöner Photographien (nicht nach Stuck), die rechtzeitig daran erinnern, daß sie auch hochgestellte Persönlichkeiten zu ihren Kunden zählen, in diesem Staat, der Kupplerinnen einsperrt, wenn sie keine hohe Klientel nachweisen können, in diesem Staat verunglückter Staatsanwälte, die peinliche Affären nicht rasch genug vertuscheln wollten, sollte das Schamgefühl wahrlich etwas zurückhaltender sein. Das Opfer des letzten großen Sittlichkeitsexzesses begründete die Flucht ins Ausland mit der Furcht, die ihm sein erster Anwalt eingeflößt hatte: »Es herrsche bei Gericht eine große Erbitterung. Man sei der kleinen Prozesse müde, man wolle einen großen Prozeß aufrollen, ein Exempel statuieren. Ein Vorsitzender sei bereits ausersehen, der sich durch besondere Schärfe auszeichnet«. Das klingt nicht unglaubhaft. Die Herren unterscheiden zwischen Prozessen, in die man »hineinsteigen« will und solchen, in die »man nicht hineinsteigt«. Hier kamen diese alten Hineinsteiger einmal auf ihre Rechnung! Hier ward von Richtern endlich wieder einmal vergessen, daß auch sie ohne Talar Menschen und ohne Kleider nackt sind ... Aber was ist das? Welchen Knabenstreich spielt mir Phantasie, daß ich »verwebe, was ich denke, mit dem, was sich wirklich zugetragen hat«? Wie, wenn sich der Fall — der sich gewiß nie zugetragen hat — wiederholte, daß ein Angeklagter dem Richter zuruft: »Damals haben Sie anders mit mir geredet, als Sie auf mich im Votivpark gepaßt haben«! Und ist dies große Beispiel für den Sieg des Allzumenschlichen über das Allzurichterliche, ist das Ende Holzingers vergessen? In flammenden Lettern sollte seit jenem Tage, da im Wiener Landesgericht ein Schuß gekracht hat, über jedem Gerichtsgebäude die Weisung prangen: Richte dich selbst!

Vgl.: Die Fackel, Nr. 187, VII. Jahr
Wien, 8. November 1905.


  1. Geschrieben nach dem Prozeß, der gegen den Wiener Universitätsprofessor Dr. Theodor Beer geführt wurde. Er war beschuldigt, in seinem photographischen Atelier zwei Knaben, Söhne zweier Advokaten, über geschlechtliche Dinge aufgeklärt, zur Onanie aufgefordert und »unzüchtig berührt« zu haben, und wurde zu einer Kerkerstrafe von drei Monaten verurteilt.