Die Memoiren der Frau v. Hervay
Oktober 1905
Wer in Wien für eine Sache eintritt, kann sicher sein, daß ihm bloß das Interesse für eine Person geglaubt wird. So versaut ist hierzulande die öffentliche Meinung. Der Fall Hervay hat mich natürlich nicht als der tiefste Fall einer sündigen Justiz interessiert, sondern als die Gelegenheit zu ritterlichem Dienst, dem ritterlicher Lohn winkt. Das bezweifelt heute kein Esel mehr. Tatsächlich habe ich mit Frau v. Hervay nach ihrer Verurteilung drei- oder viermal gesprochen. Aber ich kann wirklich sagen, ich sei von dieser Begegnung nicht einmal soweit beeinflußt worden, daß ich die Publikation meiner Artikel bedauere. Das wäre die einzige Gefahr gewesen. Ich war standhaft, sagte mir, daß man eine Sache nicht um persönlicher Eindrücke willen aufgeben darf, und blieb dabei, daß der Angeklagten schändlich mitgespielt wurde, auch wenn sie wirklich mehr lügt, als für eine Frau unbedingt notwendig ist. Was sie getan, war sicher nicht kriminell und man braucht zur Exkulpierung auch nicht zu behaupten, daß es pathologisch war. Es war höchstens unsympathisch. Hätte ich Frau v. Hervay früher gesehen, ich glaube, ich hätte bei voller Behauptung meines Standpunktes bloß etwas stärker die Bescheidenheit der Ansprüche betont, die man in Mürzzuschlag an weibliche Dämonie stellt. Und ich hätte später die Briefe der Frau v. Hervay nicht zum Druck befördert. Sowie ich heute nicht in der Lage bin, die Memoiren, die Frau v. Hervay kürzlich erscheinen ließ, zu empfehlen. Ich fühle mich sogar verpflichtet, sie ausdrücklich nicht zu empfehlen, weil Stillschweigen mir, der nun einmal als Verfechter der Hervay-Sache akkreditiert und auch in dem Buche selbst gepriesen ist, als Billigung des Unfugs ausgelegt werden könnte. Es ist nämlich ein Irrtum, zu glauben, daß der Zustand des Unschuldigverurteiltseins an sich schon ein Verdienst sei, das in Memoiren der Nachwelt überliefert werden müsse. Ein Buch unter dem Titel »Tamara v. Hervay. Ihr Leben und Denken« ist eine lästige Erscheinung. Aus einer Unschuld im Sinne des Strafgesetzes ist die Glorie nicht gewoben, in der die Jungfrau von Orleans einherschreitet, und der ewige Versuch, die Verteidigung gegen die Anklage der Bigamie als einen Kampf für die höchsten Ideale auszugeben, wirkt verstimmend. Man muß von der Gerechtigkeit ihrer Sache schon tief durchdrungen sein, um sich durch dieses banale Pathos des »per aspera ad astra«, mit dem Frau v. Hervay die Öffentlichkeit seit dem Leobener Ereignis angeht, nicht abschrecken zu lassen. Frau v. Hervay druckt in dem Vorwort ihres Buches eine Erklärung ab, in der sie sich für fünftausend Kronen zur Unterlassung aller weiteren Feindseligkeiten gegen die Familie des toten Bezirkshauptmanns verpflichtet hat. Man habe ihr diese Verpflichtung aufgezwungen. Da die Frau sich auch die fünftausend Kronen aufzwingen ließ, durfte sie füglich die Memoiren, die von Familienhaß bersten, nicht erscheinen lassen. Den Krieg für die Ideale mit der Summe, um die man sich den Frieden abkaufen ließ, von neuem beginnen, das muß dem Glauben an die heroischeste Gesinnung Eintrag tun. Frau v. Hervay will sich eine Existenz bereiten. Aber wenn sie früher von Stickereien gelebt hat, deren Ertrag sogar zu einer Reise nach Indien gelangt zu haben scheint, so ist sie jetzt nicht auf literarische Handarbeit angewiesen. Es kann sehr interessant sein, einen Kolportageroman zu erleben; ihn zu schreiben ist nicht unerläßlich. Frau v. Hervay erklärt, um allen Mißdeutungen von vornherein zu begegnen, daß sie keine verblühte Frau sei, die sich à tout prix eine sorgenlose Existenz schaffen wolle; sie sei vielmehr »eine tiefernste Natur«. Es ist gut, daß sie das ausdrücklich sagt. Sonst hätte man die angenehmen Bekenntnisse, die sie später ablegt, vielleicht doch nicht entsprechend gewürdigt: »Sie glauben, daß mein Mann nur den schönen Körper liebte, meine Seele, meine Charaktereigenschaften ihm gleichgültig waren? Nein, tausendmal nein, Herr v. F. Er liebte meine Seele, vielleicht aber nicht ganz bewußt, er achtete und bewunderte meinen Charakter ... Gewiß war seine Liebe auch eine sinnliche, nur war ihm die Sinnlichkeit nicht Hauptsache und ich hielt Maß. Auch im intimsten ehelichen Verkehr ließen wir uns niemals gehen, alles hatte eine gewisse Weihe und stets genossen wir unsere heiße Liebe als etwas Neues, Heiliges! Ich will Ihnen seine eigenen Worte wiederholen: ›Schatzerl, wie ist bei uns doch alles so heilig, was gibt mir dein tiefes Gemüt für grenzenloses Glück! Aber sag, wirst du mich auch lieben, so wie jetzt, wenn ich, was vielleicht bald sein wird, dich nur noch küssen kann?‹ Ich habe ihm sehr ernst geantwortet, daß das, was er meint, doch nicht die ›Hauptsache‹ ist, daß die wahrhaftige Liebe ›davon‹ doch ganz unbeeinflußt sei. Eine Ehe wie die unsere basiere doch auch auf gegenseitiger Hochachtung ... Wenn die Freundschaft, die Hochachtung bleiben, so sei dies ein herrlicher Ersatz für den Sinnengenuß.« Und: »Alle Augenblicke kam er während seiner Amtsstunden zu mir hinüber und rief: ›Mädi mein, ich muß mir schnell ein Bussi holen‹ ...« Und als sie einmal abends ausging, ohne es ihm zu sagen, war er untröstlich. Sie aber war »in die Maiandacht« gegangen. »Ja, es ist wahr«, bekennt Frau v. Hervay schließlich, »ich bin viel geliebt worden, aber, wer will denn mich dafür verantworlich machen, ich weiß es nicht einmal, was mich den Männern so anziehend macht, denn was an mir schön ist, sieht doch keiner und in meiner Kleidung bin ich einfach und schlicht. Ich trug fast immer schwarze tailor-made ... Die Dessous liebe ich elegant, sie waren das Entzücken meines Franz. Und was ich zu meiner Toilette brauche, was mich umgibt, muß schön sein. So eine durstige Sehnsucht nach Schönheit beherrscht mich.« Daß die Dessous das ganze Unglück verschuldet, den Bezirkshauptmann fasziniert und die Mürzzuschlager erbittert haben, davon bin ich ja bei meiner Betrachtung der Affäre Hervay ausgegangen. Aber ich habe doch nicht vorhersehen können, daß sich Frau v. Hervay einst ihrer Vorzüge so bewußt zeigen wird und daß sie eine so durstige Sehnsucht nach Schönheit beherrscht. Ich schmeichle mir, als publizistischer Richter objektiv genug zu sein, um ein schweres Justizverbrechen trotz solcher Erfahrung zu verurteilen.
Vgl.: Die Fackel, Nr. 186, VII. Jahr
Wien, 26. Oktober 1905.