Die Wahrung berechtigter Interessen
Dezember 1904
Vor der Wiener Judikatur in Ehrensachen ist man täglich in der Lage, den Geschwornenjammer gegen die Berufsrichtermisere abzuwägen. Zweifellos haben jene recht, die da sagen, daß man ohne Reform des Strafgesetzes, ohne die Schaffung eines Schutzes für den »in Wahrung berechtigter Interessen« Handelnden die Verschiebung der Kompetenzen nicht vornehmen könne. Dem Berufsrichter wäre jede Satire als »Verspottung« ausgeliefert; jeder nicht erwiesene Vorwurf eines gestohlenen Kreuzers bei erweisbarem Diebstahl eines Guldens wäre strafbar, jede kleinste falsche Tatsache im Kampfe für die größte Wahrheit. Aber so richtig dies ist, so unrichtig ist die Vermutung, die Freisprechungen der Volksjustiz, über die man so oft den Kopf schütteln muß, entsprängen dem Bewußtsein der Laienrichter, daß der Beschuldigte seinen Ankläger zwar beleidigt, daß er aber »ein berechtigtes Interesse vertreten« hat. Die solches glauben, hätten nur dann recht, wenn sie für den Begriff »berechtigtes Interesse« verschiedene Deutungen zuließen. Vor allem eine sehr populäre, sehr materielle, sehr kleingewerbliche. Man darf jenes liberale Dogma, das den Bürger und Geschäftsmann zu einer Urteilsfähigkeit in allen Lebensfragen — und im Reich der Ehrenbeleidigung stoßen alle Lebensfragen zusammen — verpflichtet, das dem Pfaidler zutraut, daß er andere als Pfaidlerinteressen, und dem Metzger, daß er andere als Metzgerinteressen für die ausschließlich »berechtigten« halte, als den lächerlichsten ideologischen Schwindel ansehen. Die Rechtsgefahren, die heute die Geschwornenjudikatur in Preßsachen heraufbeschwört, entspringen ganz anderen Gesinnungsübeln als selbst jene vermuten, die sich bisher für die Beseitigung der Institution erklärt haben. Nicht die politische Parteigesinnung des Volksrichters, mit der heute Furcht und Hoffnung jüdischer und antisemitischer Prozeßparteien oft unrichtig rechnet, scheint mir seine Unfähigkeit zum Richteramt zu begründen. Zu so falschem Glauben neigt immer nur die Minorität, und wenn in dieser Stadt des politischen Schwachsinns einmal der Spieß, der sich immer am Herde dreht, umgekehrt, wenn wieder »liberal« Trumpf sein wird, so werden jüdische Furcht und arische Hoffnung, die an der »Befangenheit« des Geschwornen schmarotzen, ihre Rollen bloß tauschen müssen. Aber ich bekenne: Christ oder Jude, wofern sie nur ein Geschäft und eine Familie haben, aus deren Nähe sie die leidige Staatsbürgerpflicht für einen Monat abruft, sind einig in einer viel schlimmeren Befangenheit als es die politische ist. Das ist die Befangenheit des in seinem engen Bereich tüchtigen Mannes, der »Ruh’ haben will« und den Kämpfe, deren ethische Bedeutung er nicht ahnt, viel weniger interessieren als der Schaden, der seinem Unternehmen, seinem Hausstand durch unfreiwillige Beschäftigung mit unnützen Dingen erwächst und den er schon vor der Übernahme des Ehrenamts ziffernmäßig berechnen kann. In einem Theaterprozeß, in dem ich angeklagt war und wegen Beleidigung eines Kritikers und eines Direktors zu einer sehr hohen Geldstrafe verurteilt wurde, sollten die Geschwornen — nach dem Beschluß des Gerichtshofs, der die Vorladung von Theatersachverständigen ablehnte, — »sich selbst ein Urteil bilden«, ob die Vereinigung von Kritikeramt und Autorenberuf »kompatibel« sei, ob es ein Theaterdirektor in der Macht habe, die Stücke eines begünstigten Autors »durch’s Repertoire zu peitschen«. Ein Riemermeister, der auf der Geschwornenbank saß, erwachte aus seiner Lethargie. Und er wußte, wenn er je im Theater war, ganz genau, daß man zwar einen Autor für sein Theaterstück, aber nie ein Theaterstück für seinen Autor durchpeitschen könne; und sprach mich schuldig. Fremdworte, Fremdwelten. Zwölf gutmütige Menschen werden ihrem Beruf, ihren Lieben entfremdet, zu einer Tätigkeit gezwungen, die ihnen viel unorganischer ist als Juristen die Zumutung, einen Monat lang Riemen zu schneiden, Fensterscheiben einzusetzen, Rauchfänge zu kehren, viel unorganischer sogar als einem Journalisten, den solche Justiz in den Arrest geschickt hat, die Klosettreinigung. Dennoch gibt es eine Brücke des Verständnisses zwischen den fernen Sphären, aus denen eine Beleidigung geschöpft sein kann, und den Männern, die über sie zu richten haben. Das diesen Welten einzig Gemeinsame ist das Geschäft. Hier ist der Punkt, wo die Zuerkennung »berechtigter Interessen« einsetzt. Und diese Auffassung ist so unerhört menschlich, daß nur vertrackte Ideologen, die sich die Geschwornenweisheit im luftleeren Raum der liberalen Doktrin wirkend dachten, davon enttäuscht sein können. In dem Augenblick, da mein Kläger mit klagender Stimme erklärte, daß ich durch die Angriffe aufsein Theater ihm das Geschäft gestört hätte, fühlte ich, daß ich verurteilt war. Hier begann nach langen Stunden zwecklosen Verhandelns das Interesse der zwölf Männer an dem Prozeßgegenstand zu erwachen. Hätte ich damals nicht erhobenen Hauptes gesagt: ich führe den Krieg gegen die Versippung von Kritik und Produktion im öffentlichen Interesse; hätte ich demütig bekannt: ich führte ihn, weil ich eine Privatrache befriedigen wollte, weil mir von dem Kläger eine Unbill widerfuhr, weil der Kritiker mich getadelt, der Direktor mir ein Stück abgelehnt hat; hätte ich hilfesuchend beteuert, daß die Herren mir das Geschäft stören — wahrlich, meine Chancen wären günstiger gestanden! Alles Gerede über das von den »Tagesströmungen« getrübte Rechtsgefühl der Jury ist Unsinn, mindestens Übertreibung. Vor zwölf Antisemiten kann ein polnischer Jude sich einen Freispruch erkämpfen, wenn er die empörendsten Beleidigungen mit der Beteuerung zu tilgen bereit ist, er sei ein ehrlicher Gewerbetreibender und habe sich nur gegen eine ihm von der Gegenseite drohende Geschäftsschädigung zu wehren gesucht. Die in den engen Pflichtenkreis des Erwerbslebens gebannt sind, Jud und Christ, Agent und Greisler, müssen einander in dieser Tiefebene richterlicher Erkenntnis begegnen. Es ist klar, daß ein Publizist einstimmig verurteilt werden muß, wenn er, der im Dienste der öffentlichen Moral die Versumpfung einer bestimmten »Geschäftsbranche« nachweisen wollte, sich hiebei im besten Glauben einer unrichtigen Information bedient hat. Und sicher hat ein Angehöriger dieser Branche bessere Aussicht, der etwa in einem Fachblatt sich an seinem Konkurrenten für erlittene Geschäftsstörung durch dolose Angriffe rächt. Es ist nur zu wahr: die Geschwornen urteilen nicht nach dem Buchstaben des Gesetzes, sondern »prüfen die Motive einer Beleidigung«. Sie haben die »Wahrung berechtigter Interessen«, die man dem Gesetz vor dessen Handhabung durch Juristen in der Tat erst einverleiben müßte, in ihrer Weise längst berücksichtigt. Wer im Gerichtssaal einen ethischen Kampf für das öffentliche Wohl fortsetzt, »mischt sich in fremde Angelegenheiten«. Unlauterer Wettbewerb, an und für sich in Osterreich straflos, ist bei Ehrenbeleidigung ein Strafausschließungsgrund.
Vgl.: Die Fackel, Nr. 171, VI. Jahr
Wien, 17. Dezember 1904.